Madame Bürgermeister

Schon erreichen mich Beschwerden, ich hätte so lange nichts geschrieben. Stimmt – mir fällt nichts ein. Denn hier passiert gerade nichts Aufregendes. Und da soll man doch lieber die Klappe halten und seine teuren Leser nicht mit Banalitäten belästigen. Dafür gibt es schließlich Facebook.

Gestern konnte ich aber doch eine kleine Geschichte aufsammeln. Sie lag gewissermassen auf der Straße, oder besser: an der Straße. Bébé und ich gehen jeden Tag und bei jedem Wetter spazieren. Er fährt, ich schiebe. In romantischer Verklärung des Landlebens erwartete ich vor unserem Umzug hierher, dass ich stundenlang mit dem Kinderwagen durch Feld und Wiesen gehen würde und dabei andere Fußgänger unter der Landbevölkerung kennenlernen würde. Ah, non! Diese Zeiten sind seit ungefähr 100 Jahren vorbei. Die Landbevölkerung fährt Auto (weißer Renault Express, das Bauern-Auto), Trecker oder Moped. Zu Fuß gehen nur Verwirrte, Obdachlose oder Touristen. Weshalb die Auswahl an kinderwagenbefahrbaren Wegen sehr begrenzt ist. Zur Auswahl stehen: Holperweg oder Landstraße. Bébé und ich haben eine Kombination daraus erkundschaftet (etwa 80 % Holperweg, 20 % Landstraße).

Die übliche Tour geht den Hügel hinunter, wo ich die ersten Köter (es kommen noch mehr!) davon abhalte, das Baby zu fressen. Dann gucken wir Hühner. Gegenüber wohnt eine freundliche Ziege, für die ich Blümchen pflücken muss, die das Kind dann glucksend verfüttert. Dann biegen wir auf die Hauptstraße ein und gehen am einzigen (seit Jahrzehnten geschlossenen) Café des Ortes vorbei. Drinnen wohnen zwei Leutchen, die das Café genauso bewohnen, wie es wohl kurz vor der Schließung Ende der 1960er Jahre ausgesehen hat: Tische und Stühle stehen im Raum, hinter der Theke eine prähistorische Kaffeemaschine, leere Glasvitrinen für Croissants und Kuchen, in den Regalen verstaubte Pastis-Flaschen. Am Türknauf hängt der Gehstock von Madame. Bei gutem Wetter sitzen sie und ihr patron draußen unter einem Orangina-Sonnenschirm und lesen das Lokalblatt. Beide grüßen uns inzwischen (wir sind ja auch erst 7 Monate hier und haben jeden Tag bonjour in unbewegte Gesichter gesagt, bis sie dann endlich, so um Weihnachten herum, geantwortet haben).

Auf dem Weg zum Feld mit den braunen Kühen (danach kommen die schwarz-weißen, die das Baby lustiger findet, weil sie neugieriger sind und direkt an den Zaun trotten, vor allem die mit der Ohrmarke Nr. 2845, aber das ist jetzt nicht so wichtig) liegt linker Hand Saint-Sébastien. Die Kirche ist immer abgeschlossen. Ist sie baufällig? Oder einfach so zu? Ich wußte es nie, war aber immer neugierig. Und wie es der Zufall will, steht die Tür offen und ich sehe darin gerade noch einen fleischigen Arm mit Kehrblech in der Hand verschwinden. Festhalten, Baby! Wir können mit Kinderwagen nicht die Stufen hoch, sausen also den Umweg über den Friedhof, Gatter auf, Slalom durch die massigen Grabmäler. Jetzt bloß keine Vasen mit Plastikblumen umwerfen! Wir parken vor dem Portal, Bébé fliegt aus dem Gurt und mir in den Arm. Dann tappen wir durch die Tür ins Dunkle.

Der schlichte Steinbau ist innen überraschend barock: silberne Sterne auf dunkelblauem Himmel schimmern an der Kirchendecke und das Jesuskind überm Altar hat rosa Bäckchen. Ihm zu Füßen feudelt eine dicke Dame. Bonjour. Ich halte ihr das Baby als “Eisbrecher” hin und es macht, was es soll: strahlend lächeln. Schon fließt die Unterhaltung. Saint-Sébastien sei seit Jahrzehnten geschlossen, weil es zwar eine gläubige Gemeinde, aber keinen Priester gebe. Priestermangel, sagt Madame bedauernd, sei in ganz Frankreich ein großes Problem. Sie mache hier regelmäßig sauber, damit die Kirche nicht ganz verkomme. Saubermachen sei aber nicht alles, was sie tue, sondern… Sie stockt. Ich soll nachfragen. Ich frage. Sie sagt: Ich bin die neue Bürgermeisterin, Janine. Gewählt mit 73,3 Prozent der 217 Wählerstimmen. Enchanté.

In Frankreich waren gerade Kommunalwahlen. Für die Leute in den kleinen Orten ist der Bürgermeister fast wichtiger als der Präsident. Janine bekommt für ihren Job kein Geld (das gibt’s erst ab 1000 Einwohnern), aber einen Haufen Arbeit, denn in Frankreich geht man mit allen nur denkbaren Anliegen, Beschwerden, Streitigkeiten und wahrscheinlich auch bei Fußpilz zum Bürgermeister. Egal, ob jemand einen neuen Kuhstall bauen will,  eine Wasserleitung geplatzt ist oder zwei Nachbarn um die exakte Grundstücksgrenze streiten – immer muss der Bürgermeister ran. Er ist auch Vermittler zu den höheren Verwaltungsebenen, derer es hier SEHR viele gibt: Dorf, Kanton, Kommune, Kommunenverbund, Département, Region, Nation (stark vereinfachte Darstellung). Da stapeln sich gut bezahlte Beamte, mit denen Janine in den kommenden sechs Jahren langatmigen Schriftverkehr führen wird. Es wäre wirklich kein Wunder, wenn Frankreich bald pleite wäre.

Ich bin nicht politisch, sagt Janine. Sie gehört keiner Partei an. Was und mit wem es ein Monsieur Hollande im fernen Paris treibt, ist ihr schnurz. Sie will neben der Versorgung ihrer 30 Kühe, eines Trupps Hühner, ihres Enkels (dem sie jeden Tag das Mittagessen kocht) und der Reinigung von Saint-Sébastien einfach noch eine Aufgabe haben.

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Liebster Award

Dieser Blog hat einen Preis bekommen, den Liebster Award. Es ist eine Auszeichnung von Bloggern für Blogger, um die kleinen Auftritte (unter 200 Follower) bekannter zu machen. Sozusagen ein Preis von Liebhabern für Liebhaber. Ich freue mich sehr.

Da ich noch nie in die Statistik meines Providers geschaut habe, weiß ich zwar nicht, wie viele Leute mein Zeug lesen – 10, 100 oder 1000? Jedenfalls sind ein paar dabei, die nicht mit mir verwandt, befreundet oder aus anderen Gründen verpflichtet wären, mich zu lesen. Eine davon ist Christine von der “Villa Schaukelpferd”. Sie hat mich irgendwie in den Weiten des Internet aufgestöbert und nominiert. Merci, Christine! Und sie hat mir – den Regeln des Liebster Award folgend – 11 Fragen gestellt. Die soll ich beantworten, danach meinerseits 11 Blogs nominieren und den Nominierten 11 Fragen stellen.

Da schon mehrere Wochen seit der Preisvergabe vergangen sind, mich das schlechte Gewissen plagt, den Ball noch nicht weitergespielt zu haben, und da ich außerdem keine 11 preiswürdigen Blogs kenne und beurteilen kann, erlaube ich mir eine kleine Änderung der Regeln: Ich beantworte unten die 11 Fragen von Christine. Nominiere dann aber nur 3 Blogs und stelle folglich auch nur 3 Fragen. Verzeiht, liebe Blogger-Gemeinde! Das Leben ist begrenzt und die Zahl der Buchstaben, die ich täglich tippen kann, leider auch. Also, hier meine Antworten.

LiebsterAward

1. Welche Person aus der Zeitgeschichte (egal ob schon tot oder noch lebendig) würdest du gerne treffen und warum?
Kurt Tucholsky. Ich würde versuchen, ihm seinen Selbstmord auszureden, auf dass er noch mehr hellsichtige, feinsinnige, unglaublich lustige Texte schreibe.

2. Tee oder Kaffee? Wurst oder Käse? Tee und Käse. Beides gerne jederzeit und in Mengen und gern auch gemeinsam.

3. Das Schönste, das dir jemals jemand gesagt hat? I love how you walk.

4. Über was würdest du niemals bloggen? Ich würde über jedes Thema bloggen. Die Kunst ist allerdings, den richtigen Ton und den passenden Ansatz zu finden. Das gelingt mir nicht bei allen Themen, die ich spannend finde. Beispiele: mein Englisch-Nachhilfe-Schüler und der miserable Sprachunterricht in Frankreich. Französische Familienpolitik versus deutsche Familienpolitik. 

5. Welche drei Dinge würdest du auf eine einsame Insel mitnehmen? Mein Mann geht leider nicht als Ding durch und müsste zuhause bleiben. Aber bei meinem Baby bin ich nicht so sicher. Es ist zwar schon eine Person, aber auch noch viel Ding, dieses kleine Ding. Abgesehen davon: Einen E-Reader mit dem Bestand der Deutschen Bibliothek und der British Library. Einen Container Ananas. In Ananas ist alles drin, was man essen muss.

6. Wer war der Held deiner Kindheit und warum? Die Archäologen und Forscher aus “Terra X”. Genau wie sie wollte auch ich Pyramiden-Schätze ausgraben, das Rätsel der Amazonen lösen und Geschichten aus Ruinen herauslesen. Wegen “Terra X” habe ich  Geschichte studiert und es nie bereut.

7. Magst du deinen Vornamen oder würdest du lieber anders heißen? Genauso und nicht anders. Fand ich schon im Kindergarten, als die provinziellen Erzieherinnen mir einreden wollten, ich hieße doch in Wahrheit Helene und nicht Helen. Der entschiedene Widerstand gegen dieses “e”, das nicht zu mir gehört, zählt zu meinen frühesten Erinnerungen.

8. Welche übersinnlichen Fähigkeiten hättest du gerne? Fliegen. 

9. Was würdest du machen, wenn du einen Tag lang das Geschlecht wechseln könntest? Im Stehen gegen einen Baum pinkeln. Sex, von der anderen Seite aus empfunden. Mein Gehalt neu verhandeln.

10. Was hast du dir zuletzt für dich gekauft, was nichts mit Putzmitteln oder Babybrei zu tun hat? Ein T-Shirt der bretonischen Bio-Marke Ekyog. Très chic.

11. An welchem Ort der Welt würdest du gerne leben, wenn du könntest? Mit ganz viel Geld: In Paris. Leider will mein Monsieur da überhaupt nicht hin (auch nicht für Geld). Im Moment haben wir das Beste aus zwei Welten: Landleben in den Pyrenäen, und einen festen Wohnsitz im Zentrum von Hamburg.

So. Nun die drei Blogs, die ich auszeichne:

Von Alexandra Frank, “Frau Sisyphos”. Über den ganz normalen Alltagswahnsinn mit Familie in einer deutschen Großtadt.

Von Dahlia Scheindlin, “972mag Dahlia’s”. Politische und gesellschaftliche Kommentare zu   Israel, von einer liberalen Jüdin aus Tel Aviv (auf englisch).

Von Damien Butaeye, “La France vue des grottes”. Fotos und Reiseberichte eines Höhlenforschers und Fotografen, der sämtliche Höhlen Frankreichs besucht (auf französisch).

Herzlichen Glückwunsch! Meine Fragen an die Preisträger:

1. Was soll dein Blog bei den Lesern bewirken?
2. Das größte Missverständnis, das Menschen in Bezug auf dich haben?
3. Wozu sind wir auf der Welt?

La star, c’est moi!

Monsieur ist mal wieder abwesend und ich kann Bébé nicht jeden Tag allein durch die Hügel spazieren tragen, mich unterm Sonnenschirm rollen oder Eiskaffee trinken. Das füllt die Tage nicht aus, ein Ausflug muss her. Und ping! Schon kommt per Email eine Einladung zu einem privaten Klavierkonzert im Schloss des Pianisten (ich erhalte solche Programmhinweise von der Familie unserer Hausbesitzer, die in der Gegend alles und jeden kennen. Alternativer Vorschlag für den gleichen Tag: ein Workshop zum Thema “Alte Apfelbaumsorten richtig propfen”).

Das Schloss des Pianisten ist großes Theater mit Torhaus, Parkanlage, Tennisplatz und Wasserspielen. Das Konzertzimmer füllt fast zur Hälfte ein gigantischer Flügel. Wir sind etwa 30 Gäste, die meisten jenseits der 60. Bébé ist das einzige Bébé. Ich lese die Gedanken einiger grauer Eminenzen, selbst auf französisch: Ob dieses egozentrische Wesen den Kunstgenuss stören wird? Hätte man es nicht anderweitig unterbringen können? Eine Dame im schwarzen Flatterkleid und mit vielen Ketten spricht mich an und schlägt vor, ich solle den Pianisten um Erlaubnis bitten, das Kind mit in den Saal zu nehmen. 

Anders als in Deutschland ist man sich in Frankreich weitgehend darüber einig, dass Kinder nicht überall hin gehören. Kaum jemand käme hier auf die Idee, seine Kleinen mit zu einer Party zu nehmen, zum abendlichen Restaurantbesuch oder zu einer Ausstellungseröffnung. Es gibt Zeiten und Orte für Kinder, und welche für Erwachsene. Ich finde das gut. Eltern, die erwarten, dass alle Welt sich jederzeit auf ihre Zwerge einstellt, haben vergessen, was es heißt, erwachsen zu sein. In diesem Fall aber soll Bébé mit, erstens weil meine Auswahl an Babysittern heute null beträgt und weil ich, zweitens, ausprobieren will, wie das Kind auf Klassik reagiert.

Um das Gespräch mit der Flatterkleid-Frau in andere Bahnen zu lenken, frage ich sie, ob sie womöglich auch aus Deutschland sei, ich hörte da einen vertrauten Akzent? Böser Fehler. Sie zieht ihre pink angemalten Lippen zu einer Schnute und entgegnet, sie sei Autrichienne, Österreicherin. Ihr Mann sei Ungar. Danach hatte ich zwar nicht gefragt, bin jetzt aber im Bilde: Zwei verkniffene k.-u.-k.-Monarchisten.

Ich gehe rein und setze mich ganz an den Rand, um im Falle kindlicher Unvernunft flüchten zu können. Neben uns sitzt der Bürgermeister des Ortes. Der Künstler lässt ein bisschen auf sich warten und tritt dann durch eine Tapetentür vors Klavier. Er spielt erst Bach, dann Chopin. Bébé sitzt auf meinem Schoß und schaukelt rhythmisch vor und zurück. Dann kommt eine rumänische Polka, die wie hoppelnde Hasen klingt. Das Kind gerät außer sich, beklatscht das Stück mit “oh-oh”, “da-da” und “uuiii” und reißt dem Bürgermeister vor Begeisterung sein Taschentuch aus dem Jackett. Die Monarchisten werfen uns säuerliche Blicke zu, woraufhin wir uns entfernen und vom Flur aus weiter zuhören. Während der Pause, die in der Schlossküche stattfindet, zwitschere ich mir einen kleinen Roten, das Kind genehmigt sich ein Viertel Pulvermilch und schließt Freundschaft mit der versammelten Damenwelt (mit Ausnahme der Monarchistin).

Anschließend spielt der Pianist Rachmaninov und Selbstkomponiertes. Alle Achtung, der Mann scheut keinen Vergleich! Bébé döst. Nach dem Konzert schiebe ich mich durchs Gedränge zum Künstler vor, bedanke mich (denn es WAR toll) und sage ihm, dass dies Bébés erstes Konzert überhaupt gewesen sei. Er ist nicht beeindruckt. Sondern wirkt irritiert, dass sich die Augen der um ihn gescharten älteren Damen auf das Kind richten und sie es entzückt anflirten: “Oh, Schätzchen”, “Schau mal hier, Kleiner!”, “Oh là là, nimmst du mir die Brille ab, Süßer?” Der Pianist steht da wie begossen und sagt völlig humorfrei: “Er macht mir Konkurrenz.” Le star, c’est moi!

Unterdessen donnert Bébé seine Windel voll. Ich wickele ihn draußen auf der Wiese und überlege, die Stinkbombe irgendwo im Schloss zu deponieren, als Gruß des kleinsten Zuschauers. Vielleicht unter dem Deckel des Flügels…?  Wir lassen es bleiben. Sehr schade eigentlich.

Palaminy Programm

Cannes man hin, muss man aber nicht

Zugegeben, die Überschrift zu diesem Text ist ein bisschen billig. Aber genau so ist Cannes, unsere letzte Reisestation: sauteuer, aber geschmacklos. Luxus der billigsten Sorte. An der Croisette, der berühmten Strandpromenade, sitzen ockerfarben gebrannte Rentner und schauen abwechselnd auf ihre Rolex und in BILD. Schwer zu sagen, ob die vielen zugekleisterten Russinnen wegen der Pelzmäntel so schwitzen oder weil sie schwer an ihren künstlichen Brüsten tragen.

Bébé und ich schauen uns alles staunend an. Das Kind zieht ein o-förmiges Schnütchen, als es einen Hund im rosa “Hello-Kitty”-Mantel sieht. Zwei kleine Mädchen in identischen Outfits: Tüllröckchen, Mini-Pumps und Glitzer-Boleros: “Oh-oh!” Ein bombastischer Kinderwagen aus weißem Kunstleder fährt vorbei, auf dem in goldenen Buchstaben “Versace Young” steht: “Oh-oh-oh!” (Am Abend mache ich mir den Spaß und google den Preis: Das Ding kostet 3999 Euro). Aus Hamburg bin ich einiges gewöhnt, was dicke Autos, teure Klamotten und übersättigtes Großbürgertum angeht. Aber Cannes erschüttert mich. Auf den Stufen des klotzigen Festpalasts (hier wird alljährlich der rote Teppich für all die nicht weltbewegenden Stars ausgerollt) hocken zwei minderjährige Chinesinnen und schauen gelangweilt auf zahllose Gucci-, Prada- und Celine-Tüten, die sie um sich herum aufgehäuft haben. Klamotten und Handtaschen im Wert von bestimmt einigen tausend Euro sind halb herausgezogen und liegen durcheinander wie tote Jagdbeute.

Abgesehen von solchen Konsum-Leichen finden wir’s schön hier: Es sind 20 Grad, das Mittelmeer glitzert dunkelblau. Morgens, wenn Monsieur/Papa losgefahren ist, um durch die Unterwelt der Côte d’Azur zu kriechen, ziehen wir los: Erst zum Markt in der Altstadt, wo das Baby Händler und Kunden anflirtet und dafür viele “Bonjour, mon beau”-Rufe einheimst. Danach geht’s zum Strand, die Croisette entlang bis zur Marina, wo man anhand der fetten Motoryachten eine Liste weltweiter Steueroasen erstellen könnte: Da dümpelt “Lady Elegance”, Heimathafen Guernsey; “Taj Mahal” von den Caiman-Inseln; “Breeze of Pride” (mein Gott, was für ein Name) aus Monaco etc. Wer wie ich nicht einen  Euro für die öffentliche Toilette bezahlen will, kann hinter dem Wellenbrecher ungestört und mit tollem Meerblick pinkeln gehen.

Am Strandkiosk Nr. 9 trinke ich den ersten Kaffee, Bébé saugt seine Flasche aus und fällt umgehend in Tiefschlaf. Danach halten wir die Füße ins Mittelmeer, das Kind paniert seine Hände mit Sand und lutscht dann erstaunt, aber unerschrocken am Daumen. So vergehen die Tage. Der Kilometerstand des Kinderwagens ist sicher vierstellig. Abends wuchte ich ihn noch hinauf zum Burgberg. Dort in der Festung oberhalb von Cannes war der “Mann mit der eisernen Maske” jahrzehntelang eingesperrt. Ein versteckt gehaltener Zwilling Ludwigs XIV? Ein früher Whistleblower, der ein Staatsgeheimnis mit ins Grab nahm? Man weiß es nicht. Ein bisschen was Interessantes und Schönes (so wie die himmelblauen Mülltonnen) hat die Stadt jedenfalls doch.

Ist der Höhlenbär wieder aufgetaucht, nehmen wir im Schatten der Festung den Apéritif. So kann man Cannes gut aushalten: Bei Nacht und aus der Entfernung betrachtet, mit einem Glas Wein in der Hand.

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Lies mal, wer hier spricht

Jetzt will ich euch auch mal was erzählen. Ich bin der, der in diesem Blog immer nur Bébé genannt wird. Dabei habe ich einen Namen! Mama und Papa sagen ihn auf tausend verschiedene Arten, wenn ich etwas gut gemacht habe, oder wenn ich dieses tun und jenes lassen soll. Ich blicke da nicht durch. Egal, man soll die Großen nicht allzu ernst nehmen. Also, was ich erzählen wollte:

Wir sind bei blauen Omis zu Besuch. Ich schlafe in einer Kapelle. Und fahre jeden Tag Trecker! Aber der Reihe nach: Mein Papa hat eine Tante, die Thérèse heißt. Sie hat viele Lachfalten um die Augen und einen Eckzahn aus echtem Gold. Thérèse und ihre Freundin Pia sind Nonnen. Sehr besondere Nonnen: Die sitzen nicht den ganzen Tag herum und beten, sondern leben mit armen Leuten, mit Kranken, Migranten oder anderen Menschen zusammen, die’s nicht so leicht haben im Leben (Mama hat schon mal davon berichtet, die Geschichte heißt “Schwesterherzen” vom 7. November 2013).

Thérèse und Pia reisen seit 40 Jahren mit Zigeunern durch Europa (sie nennen sie gens du voyage, fahrendes Volk. Das klingt viel feiner, finde ich). Bei Nonnen wie diesen Beiden ist es so, dass sie die Leute nicht davon überzeugen wollen, auch Christen zu werden. Sie wollen denen gar nichts beibringen, sondern einfach da sein, helfen, wenn es nötig ist und Freunde sein. Ich glaube, dass Thérèse und Pia das super können. Die lachen nämlich dauernd.

Den Winter verbringen Thérèse und Pia in einem Dorf in der Provence. Und da sind wir gerade! Hier haben sie zusammen mit anderen Nonnen ein großes Haus mit Garten und ein Klo, das auch im Garten ist. Es ist ein Steh-Klo. Thérèse und Pia schlafen aber nicht im Haus, sondern wie immer in ihrem Wohnwagen (Thérèse) und im Kleinbus (Pia), der den Wohnwagen zieht, wenn sie unterwegs sind.

Auf der Wäscheleine hängen blaue Röcke und blaue Pullis und blaue Kopftücher (und auch Papas Unterhosen, die gewaschen wurden und nicht alle blau sind, aber das ist jetzt nicht so wichtig). Also, alle Nonnen sind blau angezogen. Wie die Schlümpfe! Aber wenn man genau hinguckt, sieht man, dass es in Wahrheit viele verschiedene Blaus sind (oder heißt es “Blaue”? Mama wüsste das jetzt). Da ist eine Bluse so blau wie Mamas Niveau-Dose. Ein Rock so dunkel wie Papas Jeans. Und dann gibt es alle Schattierungen von himmelblau: hellblau wie kurz nach einem Regenguss, azur wie der Sommerhimmel zuhause in den Pyrenäen, lila-blau wie vor einem Gewitter. In meinem Alter liegt ja man viel auf dem Rücken und guckt nach oben. Mit Himmelfarben kenn’ ich mich echt aus.

Mama, Papa und ich wohnen in einem alten Zirkus-Wagen. Pia erzählt, dass sie vor vielen Jahren damit als Novizin unterwegs war (so heißen Azubi-Nonnen). Ich mag den Zirkuswagen, weil da drinnen alles klein ist. Vorn gibt es eine Kapelle, vielleicht zwei Quadratmeter groß. Da passt mein Reisebett rein und sonst nicht viel. Nur ein fettes, aufgeschlagenes Buch, eine Kerze und ein kleines Baby aus Ton, das Jesus heißt. Hallo, Jesus.

Im Zirkuswagen gibt es kein Wasser aus der Leitung, sondern aus einer Kanne. Eiskalt, direkt aus dem Brunnen. Ich sag’ euch, Windelnwechseln mit kaltem Waschlappen, das ist nichts für schwache Nerven.

Meine Uroma ist auch hier. Sie wohnt eigentlich woanders in Frankreich, aber jedes Jahr macht sie ein paar Wochen Ferien bei Thérèse, die ihre Tochter ist. Meine Uroma ist 91 Jahre alt. Ich bin fast 9 Monate alt. Wir haben also beide eine 9 als Alter, und genau wie ich kann sie nicht richtig laufen und hat ganz weiche Haare. Wenn ich ihr die Brille von der Nase pflücke, lächelt sie. Am meisten spiele ich mit Pia. Die ist erst 81. Sie fährt mit mir Trecker, das könnt ihr auf dem Foto unten sehen. Wir drehen viele Runden durch den Garten und lachen uns kaputt. Pia ist ‘ne Granate. Fast hätte sie mir ein Stück Blaubeerkeks gegeben. Das hat Papa leider im letzten Moment verhindert und behauptet, Mama wolle nicht, dass ich Zucker esse oder so. Da fühlte sich Mama als preußische Spielverderberin hingestellt und war wütend auf Papa. Meine Güte, es war doch nur ein Keks! Die haben vielleicht Sorgen.

Und dann passierte noch was Aufregendes: Hier ist eine schwarze Nonne. Also, sie ist auch blau wie die anderen, aber ihre Haut ist schwarz. Sowas hatte ich noch nie aus der Nähe gesehen. Sie kommt aus Ruanda. Ruanda, Ruanda! Wie schön das Wort über die Zunge rollt, von vorne nach hinten. Ich rufe es laut und gestikuliere dazu. “Oh, er hat baba gesagt”, meint Mama. Sie muss taub sein, denn ich habe eindeutig Ruanda gesagt. Mit den Großen muss man phonetisch überkorrekt sprechen, sonst begreifen sie’s nicht. Jedenfalls nahm mich die schwarze Nonne auf den Arm und ich habe sie ins Ohr gezwickt, um herauszufinden, ob sich ein schwarzes Ohr anders anfühlt als ein rosafarbenes. Tut es nicht. Ohr ist Ohr. Mensch ist Mensch. Ist doch ganz einfach! Das sagen Thérèse und Pia auch immer.

So, das war’s von mir. Tschüss, euer Bébé.

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Guckt mal, dieses Foto (unten) wollte ich euch auch noch zeigen: Da sitzt vor dem Zirkuswagen links Thérèse als junge Nonne. Der kleine Typ auf ihrem Schoß ist mein Papa. Daneben sitzt seine Mama (meine Oma und Thérèses Schwester) mit meinem Onkel J. Er muss seitdem viele Blaubeerkekse und andere Sachen gegessen haben, denn heute ist er fast zwei Meter groß und sehr stark.

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Urgeschichte im Rohbau

Nachdem ich den Kinderwagen tagelang allein durch den winterschlafenden Ort geschoben habe, jeden Tag mit Bébé zwischen alten Männern im einzigen geöffneten Café saß (immerhin steigere ich mich von 0 Cafés – zuhause in den Pyrenäen – auf 1 Café); da passiert jetzt endlich wieder was!

Wir besuchen eine außergewöhnliche Baustelle; mein Fotograf hat den Termin angeleiert. Man sieht den monumentalen, sichelförmigen Rohbau schon aus großer Entfernung, ein Mix aus Stonehenge und Riesen-Ufo. Auf einem von dichtem Eichenwald bewachsenen Hochplateau entsteht eine exakte Kopie der Grotte Chauvet, einer Höhle ganz in der Nähe. Sie birgt die ältesten Felsmalereien der Welt. Vor 35 000 Jahren hat Homo sapiens dort zu Kohle und Ocker gegriffen und die Wände mit Löwen, Mammuts, Wollnashörnern und Wildpferden bemalt. Perfekt lebensecht, vom Balztanz der Löwen bis zu den Barthaaren der Höhlenbären. Die Künstler (wahrscheinlich waren es mehrere, denn man erkennt verschiedene Stile) nutzten das Relief der Felsen, um die Tiere plastisch erscheinen zu lassen. Perspektive, Hintergrund, gemalte Bewegung: Es ist alles da. Die Bilder sind der Beginn aller Kunst.

Nur eine Handvoll Wissenschaftler darf die Höhle für wenige Stunden pro Jahr betreten. Und deshalb wird nun ein Faksimile für Touristen gebaut, werden 8000 Quadratmeter Originalhöhle auf 3000 Quadratmeter verdichtet. Plus einem Museum für Vorgeschichte, ein Tagungszentrum, Arbeitsräume für Schulklassen, Restaurants. Der Presse-Mann führt uns herum. Bébé darf nicht mit, weil sie keine Helme für Babys haben. Er schläft aber zum Glück vor einem Baucontainer in der glasklaren Luft, dick verpackt in seinen Skianzug. Verdreckte Arbeiter stiefeln vorbei (die meisten sind billige Kräfte aus dem nahen Spanien) und lächeln in den Kinderwagen.

Wir sind beeindruckt von dem Aufwand, der hier getrieben wird: Geologen haben etwa 50 verschiedene Oberflächen der Höhlenwände identifiziert; ein Team aus Bildhauern und Künstlern ahmt jede Rille, jede Verfärbung originalgetreu nach. Die Malereien selber entstehen in Ateliers in Paris und Toulouse (ah, Toulouse! Nicht weit weg von zuhause. Klar, dass wir da demnächst auch hin müssen). Die Schauhöhle wird wie das Original 7 Grad kalt sein, dieselbe Luftfeuchtigkeit und dieselben Gerüche haben. Der Besucher wird über schmale Stege über den nachgebauten Höhlenboden laufen, er wird Schädel und Knochen der Höhlenbären sehen, die vor Jahrtausenden im Winterschlaf verendet sind. Selbst die Rentierknochen, die die prähistorischen Künstler während des Malens abnagten, werden rekonstruiert. Eröffnung ist im Frühjahr 2015.

Den Rest des Tages können wir uns nicht wieder einkriegen darüber, dass da jemand in verschlüsselten Bildern zu uns spricht, direkt aus der Vorzeit. Jemand wie wir, Homo sapiens, der uns genetisch, kognitiv und psychisch gleicht.

Wir reden wir uns die Köpfe heiß über den Stand der archäologischen Forschung und die vielen ungeklärten Fragen: Die Menschen malten beim Schein einer Fackel in den tiefsten Winkeln der Höhle. Warum nicht weiter vorn im Halbdunkel? Die Malereien zeigen ausschließlich große Säugetiere, die nicht gejagt wurden. Schamanismus oder Zufall? Warum gibt es keine Alltagsszenen, keine Darstellung von Jagdtieren, die doch lebenswichtig waren? Ist die Hand, deren Abdruck an der Wand erhalten ist und die einem mindestens 1,85 Meter großen Menschen gehörte, ist das die Hand, die die Wunderwerke schuf? Ansonsten ist nur ein einziges menschliches Abbild in der Grotte Chauvet erhalten: ein weiblicher Unterleib, in den ein massiges Bison eindringen will. Das ewige Thema also. Und die größte aller Fragen: Warum haben die Menschen gemalt? Was bedeutete es damals, und was bedeutet es für uns heute?

Da die Sonne knallt und wir gerade so schön in Fahrt sind, beschließen wir, den Eingang der Original-Höhle zu suchen. Der Ort ist nicht ausgeschildert und steht in keiner Karte, aber der Weg dorthin ist auch kein Geheimnis. Eine Geo-Chemikerin des zukünftigen Museums, die ich in einer Ausstellung über Chauvet kennengelernt habe, erklärt ihn uns.

An einer trockengefallenen Flussschleife der Ardèche, nah an der Felsbrücke Pont d’Arc, gehen wir an Weinstöcken entlang den Hang hinauf. Das Baby sitzt in seiner geliebten Kiepe und grabscht nach tiefhängenden Zweigen, die über unsere Köpfe hinweg streichen. Es geht steil bergan und ein bisschen durch die Irre, aber dann queren wir eine natürliche Galerie im Fels, die auch die Frühmenschen benutzt haben. Schon sieht man armdicke Stromkabel in den Bäumen hängen, die zu den Überwachungskameras und der per Zahlencode gesicherten Panzertür am Eingang führen. Der Bereich wirkt in der wilden Landschaft seltsam fremd: So stelle ich mir den Zugang zu einem Gold-Depot in den Schweizer Alpen vor, oder zur Cheops-Pyramide. Wir überlegen, ob wir auf gut Glück ein paar Codes eintippen sollen, das Datum der Entdeckung der Höhle (18.12.1994) oder vielleicht unseren Hochzeitstag (04.08.2012)…?

Wir lassen es bleiben. Fühlen uns aber trotzdem so aufgeregt und inspiriert, als hätten wir die Tür zu etwas Unglaublichem aufgestoßen.

Chauvet Baustelle

Pont d'Arc

Chavet Eingang

* Damien legt bei diesen Bildern besonderen Wert auf sein Copyright, weil er sie verkaufen will, und hat deshalb ein Wasserzeichen eingefügt.

Sonntag am Fluss

Wir sind drei Wochen unterwegs. Monsieur fotografiert Höhlen für einen Reiseführer. Zuerst im Flusstal der Ardèche, danach in der Provence und schließlich werden wir noch nach Monaco fahren (Höhlen in Monaco? Man erlebt doch seltsame Dinge mit einem Grottenolm als Ehemann).*

Erstes Camp der Reise ist Vallon Pont d’Arc, Hauptstädtchen aller Ardèche-Touristen. Der Fluss zieht hier malerische Schleifen durch einen Canyon aus Kalkstein und hat mit  gigantisch viel Zeit einen ebenso gigantischen Felsbogen ausgewaschen, durch den tiefgrünes Wasser strudelt: der Pont d’Arc ist eine von Frankreichs großen Landmarken und in jedem Französisch-Schulbuch abgebildet.

Im Sommer läuft der Fluss fast über vor Touristen in ihren Kajaks, doch jetzt haben wir ihn, seine sandigen Uferstrände und den Pont d’Arc ganz für uns allein. Bébé, endlich des Sitzens fähig, muss nicht mehr wie ein schlappes Kartoffelsäckchen vorn getragen werden, sondern reist wie eine vollwertige Person, mit Überblick und Beinfreiheit: auf Papas Rücken in der Kiepe. Die Beförderung gefällt offenbar; Bébé findet uns, den Fluss, den Spaziergang, einfach alles irre witzig. Aber was heißt hier Spaziergang!

Mit Bébés Vater draußen unterwegs zu sein ist niemals nur ein Spaziergang. Auch diesmal nicht. Es wird eine handfeste Wanderung entlang der Steilhänge, durch Eichenwälder und viel, viel Matsch. Mal klettern wir wie Zwerge durch haushohe Felsbrocken, mal geht es  leicht über perfekte Sandstrände. Schon beginnt Monsieur zu fantasieren: Jetzt ein Zelt, ein Gaskocher und eine leckere Tüte Fertignudeln; die Guards vom Naturpark würden uns gar nicht bemerken…

Den Rückweg kreuzt ein nicht gerade sanfter Wasserfall. Augen auf und durch! Das Baby juchzt vor Vergnügen über den eiskalten Schwall, der auf das Kiependach nieder rauscht. Wir Großen werden pladdernass. Ab nachhause. Wir haben eine Ein-Zimmer-Ferienwohnung gemietet, simpelst ausgestattet mit Blechbesteck und Omas angeschlagenem Porzellan mit Goldrand. Das heiße Duschwasser würde für zwei kurzhaarige Grottenolme reichen; Menschen wie ich jedoch, mit langem Haar und Haarwäschewunsch, müssen am Ende ganz fest an Doktor Kneipp denken und wie gesund doch kalte Güsse sind… Bébé nimmt mangels anderer Behältnisse ein Schaumbad in der Küchenspüle.

Und wie wir so am Abend zusammen sind, Heizung aufgedreht, und im selben Zimmer kochen, spielen, arbeiten und schlafen, ist es doch ein wenig wie Zelten.

* wen die Arbeit eines Höhlenfotografen interessiert, sollte diesen Blog verfolgen:
La France vue des Grottes (Texte auf Französisch).

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Ernest badet im Spülbecken

Rotz und gut

“Hast lange nichts gebloggt”, sagt meine Mutter am Telefon. “Kommt da bald was?”
“Ich ziehe dein rotznasiges Enkelkind auf. Das ist ein Vollzeitjob, du erinnerst dich vielleicht.”
Sie, im heile-heile-Segen-Ton: “Ist ja gut.”

Stimmt: Es ist ja gut! Es ist alles, alles gut! Wir haben Vorfrühling vor beschneiter Bergkulisse. Der Feigenbaum knospt; auf der Wiese nebenan darf der Bulle wieder unter seinen Kühen weilen und kommt dort sehr engagiert seinen Pflichten nach. Mir gelingt inzwischen das Vollkorn-Sauerteigbrot nahezu perfekt: außen kross, innen saftig. Man kann schließlich nicht nur von Baguette leben. Also, wo ist das Problem?

Es ist der Rotz. Er begleitet uns seit fünf Wochen. Von unseren Weihnachtsgästen bekamen wir eine schöne Auswahl europäischer Erkältungsviren mitgebracht, von denen wir seither jedes einzelne  unter vollem Körpereinsatz testen. Erst Bébé, dann Monsieur und ich, dann wieder Bébé, jetzt gerade Bébé und ich gemeinsam. Ich kann vieles aushalten, aber wieder und wieder den Stecker gezogen zu bekommen wegen Rotz und wieder Rotz, das macht mich irre.

Die Kinderärztin verschrieb dafür gestern eine Lösung, wenigstens fürs Kind: mouche bébé, eine Baby-Rotzpumpe. Im Prinzip ein Schläuchlein mit zwei Enden. Das eine kommt in Babys Nasenloch, das andere nimmt Mama in den Mund und saugt (nicht Papa, siehe Packung!). Das Teil ist aus transparentem Plastik, sonst würde man einfach nicht glauben, was so alles aus einer Kindernase fließen kann.

Und selbstverständlich verläuft die Anwendung der Rotzpumpe bei uns haargenau so wie auf dem Foto der Packung gezeigt: Das Baby reckt lächelnd sein Näschen empor, bläht gar vergnügt die Nüstern und hält dabei schöööön still, damit maman in aller Ruhe zu Werke gehen kann, natürlich mit perfekt manikürten und kirschrot lackierten Nägeln…

Was lernen wie daraus?

1. Mein Leben ist (fast) ein Werbefoto.
2.  Fällt einem nichts ein, weil man zu wenig Zeit und zu viel Rotz hat, kann man immer noch über Letzteren schreiben.
3. Meine Mama hat (meistens) Recht.
4. Es ist alles gut. Wirklich.

Rotzpumpe

Hollande und Höhlenbären

Da passiert auf unserem Hügel wochenlang nichts Aufregendes – und dann, vergangenen Samstag, muss ich mich zwischen zwei Highlights entscheiden. Das kam so:

In diesem Jahr fand das Jahrestreffen des örtlichen Speleologen-Vereins in unserer Küche statt. Speleo was? Höhlenforschung. (Spelunke, schummrige Kellerkneipe, ist mit dem Begriff verwandt). Speleologie ist in Frankreich ein verbreiteter Abenteuer-Sport und sogar ein Beruf für Hartgesottene, die davon leben, hunderte von Metern in kalte, nasse Gänge zu kriechen, Karten zu erstellen, Gesteinsproben zu sammeln oder Touristen die Freuden der Unterwelt nahe zu bringen. Die Pyrenäen sind durchlöchert wie der Brébis-Schafskäse, der hier gemacht wird, und damit ein einziger großer Speleo-Spielplatz.

Monsieur ist gleich nach unserer Ankunft Mitglied des Vereins geworden, um sich sonntags dem größten Vergnügen hinzugeben, das es für ihn auf Erden gibt: im reißfesten Overall, mit Helm und Stirnlampe irgendwelchen unterirdischen Flüssen zu folgen. Er kommt von solchen Expeditionen glücklich und unfassbar verdreckt zurück. Nun also wollten etwa 20 seiner Kollegen bei uns tagen, ihren vorsitzenden Höhlenbären, dessen Stellvertreter und den Schatzmeister in ihren Ämtern bestätigen. Monsieur und eine Höhlenbärin (ja, die gibt’s auch!) kochten zu diesem Anlass ein halbes Schwein auf Reis.

Ich wollte dabei sein, um Leute kennen zu lernen, ein bisschen französisch zu sprechen und dem Speleologen-Garn zu lauschen, das zu fortgeschrittener Stunde sicher reichlich gesponnen wurde: “Weißt du noch, damals, als wir 800 Meter tief im Berg fest saßen und das Wasser immer höher stieg…” (Monsieur hat so etwas tatsächlich schon erlebt. Ein Alptraum, jedenfalls für mich, die ich in Hamburg wartete und fast schon ein schwarzes Trauerkleid in den Koffer gepackt hätte. Aber das ist eine andere Geschichte).

Doch dann rief ein gewisses Nachrichtenmagazin aus Hamburg an, für das ich arbeite, wenn gerade kein Baby an meinem Busen hängt. Der Kollege  vom Auslandsressort entschuldigte sich 37 Mal für den Anruf (sonst sind die nie so zimperlich) und fragte, ob ich zu einem Artikel über François Hollande beitragen könne. Die Boulevard-Presse hat ja gerade einen gnadenlosen Scheinwerfer in die total unaufgeräumten Beziehungskisten des Präsidenten gehalten, und auch beruflich könnte es besser für ihn laufen. Ist also Stoff für den stern.

Am Samstag wurde Hollande in Tulle erwartet, etwa 350 Kilometer von hier. Dort begann seine politische Karriere einst als Bürgermeister. Hollande wollte da rund 1400 handverlesenen Bürgern persönlich ein schönes, neues Jahr wünschen (Diese voeux, die präsidialen Neujahrwünsche, haben Tradition in Frankreich). Ich fuhr also nach Tulle, ein hübsch langweiliges Städtchen, und trieb ich mich auf dem Markt und in den Cafés herum, um die Leute nach ihrem berühmtesten Mitbürger auszufragen (“Ah oui, der François ist ein guter Typ, so warmherzig! Seine Frauen? Naja, für Gefühle kann man ja nichts.”) Hollande ist beliebt in Tulle, was auch daran liegen mag, dass sich die Zuschüsse aus Paris für das Départment um ein Hundertfaches erhöht haben, seit er Präsident ist.

Am Nachmittag kam er dann in eine Mehrzweckhalle am Ortseingang und spulte 40 Minuten lang Phrasen ab. Es lebe die Republik! Es lebe Frankreich! Tätää, dann spielten sie die Marseillaise vom Band. Die internationale Journaille von BBC bis New York Times wartete vergebens auf ein Wörtchen zu der Frage “Valérie oder Julie?”. Hollande wirkte müde, verschlossen und so glatt wie seine an den Kopf geklebten Haare.

Ich fuhr etwas ratlos wieder nachhause. Bei der Lokalzeitung im Münsterland, wo ich ganz früher mal gearbeitet habe, hätten wir zu so einem Termin gesagt: Nullnummer, gab nix her. Wir drucken stattdessen den Text über das Ostereiermalen im Altenheim. Aber das kann ich beim stern nicht bringen, also ging’s nachhause und noch in der Nacht an den Schreibtisch, um  einige halbwegs sinnvolle Zeilen zu dichten (wovon die Redaktion am Ende wahrscheinlich 3,5 abdruckt). Egal – es hat trotzdem Spaß gemacht. Die Wachtelei-Häppchen, die nach Hollandes Rede herumgereicht wurden, waren köstlich. Aber beim nächsten Mal, Monsieur le Président, entscheide ich mich für die Höhlenbären!

Pressepass_Tulle2

 

Wonder Woman

Gestern Abend traf ich Wonder Woman. Sie saß in einem Blätterteigkuchen, einer galette des rois, den die Franzosen traditionell zum Dreikönigsfest am 6. Januar essen (oder auch noch etwas später). In den Kuchen wird eine Bohne oder eine kleine Figur eingebacken. Wer sie erwischt, ist König oder Königin und trägt für den Rest des Tages eine Pappkrone. Wir aßen den Königskuchen als Nachtisch bei Patrick und Sylvie (den Pantoffelmachern aus der Nachbarschaft, siehe Blog “Pantoffelzeit” vom 14. Oktober). Die beiden bewohnen über ihrem unordentlichen Atelier ein überraschend aufgeräumtes, gemütliches Chalet mit Bollerofen. Bébé kugelte auf dem Boden herum, Monsieur berichtete von seiner letzten Recherchereise. Unsere Gastgeber erzählten, dass sie einen Online-Handel mit ihren Fell-Waren aufziehen und ein modernes Atelier bauen wollen. Und ich? Stocherte im Kuchen und kam mir vor wie eine langweilige Hausfrau, die nicht weiter denken kann als bis zur nächsten Kochwäsche.

Dann biss ich auf etwas Kleines aus Plastik – Wonder Woman. Toller Busen, dachte ich, und lutschte sie vollends frei. Geballte Fäuste, sportliche Pose – ich wußte, diese Frau will mir was sagen. Und Wonder Woman sprach zu mir: Dies, liebe Helen, sind deine Neujahrsvorhaben…

1. Still dein Baby ab. Es reicht. Das mit dem tollen Busen hört dann zwar auf, aber dafür gewinnst du deine Freiheit zurück (naja, so frei wie man als Babymama halt sein kann). Was ist dagegen schon eine verlorene BH-Größe?!
2. Mut zum Joggen! Zwar wird dir aus jeder zweiten Einfahrt ein knurrender Hund hinterher rennen; während der Feiertage schnappte gar einer nach einem Familienmitglied. Du aber nimmst es französisch: Je m’en fous, mir doch sch… egal. All ihr Köter da draußen, die ihr so gefährlich tut: Nehmt euch in Acht! Die Superheldin ist los.
3. Superman hat seinen Laserblick und seinen unzerstörbaren Anzug. Ich, Wonder Woman, habe mein magisches Lasso. Es zwingt alle damit Eingefangenen, die Wahrheit zu sagen. Praktisches Accessoire für eine Journalistin. Ich leih dir das Teil. Benutze es reichlich und denk dran: Auch du solltest noch mehr die Klappe aufreißen und wahre Dinge aussprechen. Wir brauchen mehr Klartext auf dieser Welt.
4. Es ist egal, wo du bist und was du machst. Das Ungewöhnliche wartet überall. Und manchmal springen neue Ideen auch einfach aus einem Kuchen.

Wonder Woman