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Freunde eines Jahres (Au revoir 2)

Wir können nicht wegfahren, ohne ein Abschiedsfest zu geben. Die Gästeliste zu schreiben dauert etwa eine Minute. Wir laden einfach alle ein, die uns im Laufe eines Jahres ans Herz gewachsen sind. 15 Namen stehen drauf. Es kommen schließlich 27 den Hügel herauf, weil viele ihre Partner, Freunde und Kinder mitgebracht haben (Hunde nicht mitgezählt).

Wir werden mit essbaren Geschenken überhäuft (Berghonig, zehn Sorten Ziegenkäse, hausgemachte Gänseleber, Weine aus der Region, eingemachte Kirschen, eingemachte Mirabellen, Bärlauch-Pesto, Kastanien-Püree und und und). Als die Bergketten im tintenblauen Dunkel versinken, sitzen draußen am Tisch:

Muriel und Olivier, befreundete Höhlenbären. Unser Automechaniker Christophe. Meine Zumba-Girls. Bäckerin Emmanuelle mit Mann und zwei Söhnen. Die Nachbar-Bauern. Patrick und Sylvie, die Pantoffelmacher aus dem nächsten Dorf, mit zwei erwachsenen Kindern. Patrick und Caroline, die ganz in der Nähe ein ehemaliges Wohnhaus von Zisterzienser-Mönchen aus dem 12. Jahrhundert restaurieren (über dieses beeindruckende Projekt wollte ich auch noch schreiben. Aber wann bloß…?) Weiter: Nachbar Fred und Angelique, eine Flamenco-Lehrerin, kommen zwei entzückenden Töchtern, die unser Bébé an beide Händen fassen und ihn mit ihrem riesenhaften Hund Romeo bekannt machen (was auf Bébés Seite begeisterte “wau-wau”-Rufe auslöst und Romeo ziemlich kalt lässt). Bébés Babysitter Laura und deren Eltern: Bernard, der Schäfer, mit Evelyne.

Der Abend ist lau, Monsieur grillt Lammkoteletts und meine charmante Schwester, die zu Besuch ist, füllt Gläser nach und wird von kleinen Mädchen und Männerblicken verfolgt. Für mich wäre dies jetzt der Moment, sentimental zu werden. Ach, die Berge. Der weite Himmel. Unser Haus. Die Menschen, die wir mögen und die uns mögen. Und ein Jahr, das zu Ende geht. Doch so sehr mir bewusst ist, etwas Kostbares und Einzigartiges erlebt zu haben – festhalten will ich es nicht. Es darf vorbei sein. Und so sitze ich auf der noch warmen Steinmauer am Haus, höre unsere Freunde lachen und palavern. Denke an unser Kind, das schon seit Stunden schläft.

Als wir herkamen, war es noch ein schlappes Püppchen mit Wackelkopf. Jetzt ist daraus ein unerschrockener kleiner Junge geworden, der auf eigenen Beinen steht (wenn er auch noch nicht geht). Seit wir hier sind nehme ich ihn jeden Abend vor dem Schlafengehen auf den Arm und wir gehen einmal ums Haus herum, um allen eine gute Nacht zu wünschen. Gute Nacht, Kühe. Gute Nacht, Eidechsen, Hunde und Kauze. Gute Nacht Marderfamilie, die im Dach wohnt. Das Kind schaut dann meist noch erwartungsvoll und ich mache weiter: Gute Nacht, Berge. Gute Nacht, Sonne und Wolken und Wiese. Noch immer große Augen. Weiter, Mama! Also gut (es hören ja nur wir beide): Gute Nacht, Komposthaufen. Gute Nacht, Gartenschlauch…

Was für ein seltsames Gefühl, so viel Schönes nicht wiederholen zu wollen. Heißt das, dass es nicht schön war? Nein. Es heißt wohl eher, dass uns hier in Frankreich das seltene Kunststück gelungen ist, ganz im Hier und Jetzt zu leben.

Gegen drei Uhr morgens sagen uns die letzten Freunde au revoir und: Wie schön, euch kennengelernt zu haben, bleibt heil und gesund, wir werden euch vermissen, kommt wieder, ihr seid immer willkommen.

Gute Nacht, alle. Au revoir, Frankreich.

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Rudi ist platt

Hier geht Seltsames vor. Die Großen haben angefangen, Dinge in Kartons zu packen. Toll, dachte ich zuerst, endlich haben sie das Spiel begriffen! Denn auch ich verbringe viel Zeit damit, alles an den richtigen Platz zu schaffen: Dupla-Steine gehören unter den Küchenschrank. Krümel und Essensreste wische ich vom Teller auf den Boden. Und Taschentuch-Packungen müssen ins Gästeklo. Deckel auf, Taschentücher rein. Die Packung dreht sich sehr schön im Kreis, saugt sich langsam mit Wasser voll und geht dann unter. Wunderbar! Ich schaue mir das nach Möglichkeit mehrmals am Tag an (manchmal machen sie leider die Tür vom Gäste-Klo zu und ich komme nicht rein).

Doch wie das bei meinen Großen fast immer der Fall ist, verfolgen sie offenbar einen Plan. Ich weiß noch nicht genau, welchen. Aber unsere Sachen werden kartonweise ins Auto und auf einen Anhänger verladen, der neuerdings im Garten steht. Apropos Auto: Papa hat es außen geduscht und innen gesaugt. Das hat er noch nie gemacht, so lange ich lebe! Und dann hat Mama den Stöpsel aus Rudis Popo genommen und ihm die Luft abgelassen. Rudi ist mein Pferd und jetzt ganz platt. Ratet, was sie dann mit ihm gemacht haben! Genau – er kam auch in einen Karton. Das alles bestätigt meinen Verdacht, dass hier etwas ganz Merkwürdiges geschieht. Ich halte euch auf dem Laufenden.

Auf anderer Erde gehen

Das große Packen und Aufräumen hat begonnen. Trotzdem musste Zeit sein, um etwa 800 Schafe in die Sommerferien zu bringen, hoch auf die Almen nahe Luchon. Bernard, der Schäfer aus unserem Dorf, hat uns eingeladen, seine Herde zu begleiten und auf dem Weg mit anderen Schäfern und ihren Tieren zusammenzutreffen.

Ich kann einer Wanderung ins Hochgebirge nicht widerstehen; und D., mein Fotograf, sah im Geiste schon eine Reportage in schwarz-weiß. Bébé blieb zuhause bei Laura (der Tochter des Schäfers, die diese Tour als Kind jedes Jahr machen musste, so dass sie ein für allemal genug davon hat).

Ich finde, dass D.s Fotos besser als jeder Text erzählen, was wir erlebt haben. Deshalb gibt es diesmal nur knappe Bildunterzeilen.

Transhumance Luchon, Haute-Garonne, France7.30 Uhr morgens. Schäfer Bernard (in der Mitte mit Bart) und die Helfer warten auf den Laster, der die Schafe aus dem Dorf näher ans Gebirge bringen wird.

Transhumance Luchon, Haute-Garonne, FranceEs gelingt nicht auf Anhieb, die Schafe in den Laster zu verladen. Am Ende ist es Evelyne, Bernards Frau, die sie mit grobem Salz und sanften Worten locken kann. Nervöses Getrappel, viel Geblöke – dann sind sie drin.

Transhumance Luchon, Haute-Garonne, France
Klappe zu und los!

Transhumance Luchon, Haute-Garonne, FranceDie Hütehunde springen von selbst ins Auto. Es geht etwa 1 Stunde über kurvige Landstrassen, die der Laster-Fahrer in einem Affenzahn abreißt, so dass wir ihn in unserem Opel fast verlieren.

Transhumance Luchon, Haute-Garonne, FranceHier beginnt der Aufstieg zur Alm. Im Vordergrund: Pistou, der Große. Bernards Hütehund gehorcht auf beeindruckende Weise: Ein Pfiff, eine Geste und dieser wolfsartige Riese treibt die Schafe dahin, wo sein maître sie haben will.

Transhumance Luchon, Haute-Garonne, FranceLiberté, Égalité, Fraternité – meeh! Schafe und Ziegen kennen keine Hierarchie in der Herde. Diese hier bekommt die Anführer-Glocke umgelegt, weil sie einfach gerne vorneweg geht.

Transhumance Luchon, Haute-Garonne, France

Transhumance Luchon, Haute-Garonne, FranceVieni, vieni, lauft zu! Der Ruf der Schäfer stammt aus dem Okzitanischen, der uralten Sprache Südfrankreichs.

Transhumance Luchon, Haute-Garonne, FranceGegen Mittag kurze Rast auf etwa 1200 Metern Höhe.

Transhumance Luchon, Haute-Garonne, FrancePistou ist nicht nur ein ausgezeichneter Hütehund, sondern auch der Vater fast aller Hunde im Dorf. Wo auch immer es einen Wurf Welpen gibt (gerade letzte Woche bei einer Hündin von Emmanuelle, der Bäckerin) – hat Pistou sie gezeugt, worauf Bernard nicht wenig stolz ist.

Transhumance Luchon, Haute-Garonne, FranceDieser Ziegenbock will nicht so, wie er soll und senkt kampfbereit die Hörner. Woraufhin Pistou ihm wenig zimperlich klar macht, wer hier das Sagen hat.

Transhumance Luchon, Haute-Garonne, France“Siehst du, dass ich die Hirtenstäbe hier als grafisches Element genutzt habe?”, fragt Monsieur, als er mir dieses Bild zeigt. Ja doch, sehr grafisch!

Transhumance Luchon, Haute-Garonne, FranceDer Kleine im Hintergrund wird gleich von einem der Schäfer tief untergetaucht, was die Männer zum Brüllen witzig finden und der Kleine nur zum Brüllen…

Transhumance Luchon, Haute-Garonne, France

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Transhumance Luchon, Haute-Garonne, FranceDie Schäfer vor der Almhütte. Manche sind mit hunderten Tieren gekommen, andere nur mit einer Handvoll. Für alle ist die transhumance (wörtlich: auf anderer Erde gehen) ein Tag der Freundschaft, der Geselligkeit. Sie scheinen hier oben aufzuatmen und ihre Gedanken frei zu lassen.

Transhumance Luchon, Haute-Garonne, France
Einige Frauen sind mit Pickups hoch gekommen, aus denen sie Kühltaschen voller Bratwürste, Kartoffelsalat und Himbeer-Tarte in die Hütte schleppen. Vor dem Essen gibt es flaschenweise Ricard, Anisschnaps.

Transhumance Luchon, Haute-Garonne, France
Transhumance Luchon, Haute-Garonne, FranceDie Schafe gehen draußen in dichten Wolken ihrer Wege. Drinnen brennt ein kräftiges Feuer und der Schnaps fliesst. Der junge Mann in der Mitte ist Jean-Pierre, unser nächster Nachbar.

Transhumance Luchon, Haute-Garonne, France
Etwa 20 Minuten später.

Transhumance Luchon, Haute-Garonne, FranceJean-Pierres Vater.

Transhumance Luchon, Haute-Garonne, FranceNur die Hunde und die Kinder werden nicht müde.

Transhumance Luchon, Haute-Garonne, France

Transhumance Luchon, Haute-Garonne, France

Transhumance Luchon, Haute-Garonne, FranceAm späten Nachmittag wandern wir mit Bernard, Evelyne und Pistou zurück ins Tal. “Warum haben wir uns bloss nicht früher richtig kennengelernt?”, fragt Bernard. Wir kommen sehr glücklich und erfüllt zuhause an, nicht nur wegen dieser Frage.

In der Höhle des Monsieur Gilbert

Gilbert Pémandrant ist 79 Jahre alt und geht immer noch jeden Tag zur Arbeit. Sein Arbeitsplatz ist konstant 13 Grad kühl, stockdunkel und ein wenig feucht. Monsieur Gilbert besitzt eine Höhle, die Grotte de Bernifal. Wir fahren hin, es ist die letzte im Périgord und überhaupt eine der letzten Etappen auf der langen Liste unterirdischer Sehenswürdigkeiten, die mein Mann in ganz Frankreich fotografiert.

Wir müssen drei Mal umkehren und zwei Mal nachfragen, um die Höhle zu finden. Denn Monsieur Gilbert führt zwar gerne Touristen (und die Presse) hinein, er will es den Leuten  aber offenbar nicht zu einfach machen. Mir scheint, als hätte er mindestens jeden zweiten Wegweiser abmontiert. Die Bernifal muss man sich verdienen, soll das wohl heißen.

Wir lassen das Auto auf einem kleinen Schotterplatz stehen, der Fotograf schleppt schwer an seiner Fotoausrüstung und ich hopple mit Bébés Kinderwagen voraus in den Wald. Endlich kühl! Es ist später Nachmittag und die Sonne schickt hellgrünes Licht durch die Laubbäume. Der Pfad geht steil bergan, das Kind wird gerüttelt und gestoßen (es kennt das schon und bleibt cool). Oben erwartet uns Monsieur Gilbert: gebeugt, mit hellwachen Augen. Er sagt Bonjour und lächelt nicht. Eine Sicherheitsnadel am Kragen seines alten Strickpullis verhindert, dass dieser sich gänzlich auflöst.

Bébé wird in lange Hosen, Socken, Fleecejacke und Mütze gesteckt und schaut uns an, als würde er sagen: Leute, es sind 30 Grad! Aber bei euch wundert mich ja gar nichts mehr… Auch wir packen uns warm ein. Dann sperrt Monsieur Gilbert eine dunkelgrüne Eisentür auf, die in den Fels eingelassen ist und schaltet eine rostige Glühlampe an. Das Kabel verschwindet in einer Tasche, die ihm über der Schulter baumelt. Was ist da drin? “Rasenmäher-Batterie”, grummelt er mit seinem südfranzösischen Akzent, “wiegt ein paar Kilo, bewährt sich aber seit Jahrzehnten.”

Drinnen dann – eine zauberhafte Welt. Monsieur Gilbert lässt die Stille und die Finsternis wirken, erst dann beginnt er die Tour. Seine Stimme hallt tief im Berg nach. Die Grotte de Bernifal wurde 1902 auf dem Land seiner Familie entdeckt, sie ist sein Eigentum. Die Bilder und Gravuren darin haben Menschen der Magdalénien-Kultur am Ende der letzten Eiszeit geschaffen, vor 15 000 Jahren. Die Werke sind so bedeutsam, dass sie staatlich geschützt sind und zum UNESCO-Weltkulturerbe zählen. Doch wie Monsieur Gilbert diesen Schatz präsentiert, das überlässt man ihm allein. Und das wiederum ist unfassbar großes Glück.

Denn diese Höhle ist kein Museum. Es gibt keinen Strom, keine Laufstege, keine Erklärtafeln, kein Panzerglas, keine Absperrung und keinen Shop. Monsieur Gilbert hat noch nicht mal eine Bank aufgestellt und noch nie im Leben eine Postkarte verkauft. Nein, seine Höhle soll ein Stück unmittelbarer Urzeitkultur bleiben, nahezu so, wie die Menschen der rätselhaften, westeuropäischen Zivilisation des Magdalénien sie verlassen haben. Warum malten sie Mammuts, Bisons und Wildpferde auf den Fels? Warum nahmen sie die Mühe auf sich, im flackernden Licht einer Öllampe einen Höhlenbären aus dem Stein zu schlagen? Und wer war die Frau, deren Gesicht uns von der Wand anschaut, so als trennten uns nicht Jahrtausende, sondern nur ein Wimpernschlag? Dieses Porträt ist, soweit wir wissen, das einzige Bild eines menschlichen Antlitzes der Epoche. Ich kann die Augen nicht davon lassen.

Wir gehen mit tastenden Schritten immer tiefer in die Gänge und Galerien hinein, schauen und staunen. Der Fotograf darf seine Blitzgeräte hinstellen, wo er will, und Bébé, der sich vor Neugier windet, kriecht auf dem feuchten Höhlenboden spazieren. Doch dann erlaubt sich Monsieur Gilbert den Scherz, seine Lampe auszuschalten, als das Kind, mehrere Meter von uns entfernt, gerade einen Stalagmiten befühlen will. Et alors, ruft er ins Dunkle, was machst du jetzt, kleiner Wicht? Dem kleinen Wicht wird angst und bang, er kreischt und will SOFORT aus der Höhle raus. Damit ist die Führung für mich beendet.

Draussen empfängt uns die warme Sommerluft wie ein lange vermisster Freund. Bébé und ich picknicken im Abendlicht, dann räumt das Kind ein bisschen im Wald auf (trockene Blätter, Ästchen und Steine werden von hier nach dort transportiert). Zwei Stunden warten wir so auf unseren Fotografen, dann treten er und Monsieur Gilbert aus der Eisentür, vertieft in ein Fachgespräch über Kalkablagerungen auf Höhlenkunstwerken, Fragen der Konservierung und angemessene Eintrittspreise (Monsieur Gilbert nimmt 7 Euro für den Besuch seiner magischen Zeitkapsel, inklusive Führung).

Wir mögen uns nicht trennen. Wir nicht von Monsieur Gilbert und er, so scheint es, auch nicht von uns. Er lebt allein, zuhause warten nur ein paar Kühe auf ihn. Heute sei sein Geburtstag, sagt er. Bébé zwickt ihm ganz herzlich in die Nase. Da lächelt er zum ersten Mal. In der Dämmerung sagen wir schließlich Au revoir und Monsieur Gilbert fügt ganz ernsthaft hinzu: bis zum nächsten Mal. Ja, bis zum nächsten Mal! Und wenn wir es nicht sind, dann ihr! Bitte, wer je in die Gegend von Les Eyzies im Périgord kommt, suche und finde die wunderbare Grotte de Bernifal. Solange Monsieur Gilbert noch da ist, um keine Postkarten zu verkaufen, keinen Strom zu legen und kein Panzerglas zu installieren. Ein wahrer Hüter der Höhle.

Sie gehörte seinem Vater und vor ihm seinem Großvater. Einen Nachfolger hat er nicht.

Grotte de Bernifal, Dordogne, FranceGrotte de Bernifal, Dordogne, France

Grotte de Bernifal, Dordogne, France

Grotte de Bernifal, Dordogne, FranceGrotte de Bernifal, Dordogne, FranceGrotte de Bernifal, Dordogne, FranceGrotte de Bernifal, Dordogne, FranceGrotte de Bernifal, Dordogne, France

Ferien im Périgord

Wir sind unserem Fotografen ins Périgord gefolgt, um kurz vor Schluss noch einen anderen Teil Frankreichs zu sehen und um nicht wochenlang allein auf dem Pyrenäen-Hügel zu sitzen (nichts gegen den Pyrenäen-Hügel, er ist wunderbar; doch Bébé und ich fühlen uns in der Abgeschiedenheit manchmal wie die Gallier in „Asterix“: Wir fürchten, der Himmel könnte uns auf den Kopf fallen).

Das Périgord also. Es ist Südfrankreich wie aus dem Bildband: weite Felder, auf denen das Korn in der Hitze steht, enge Dörfer aus hellem Stein, wo Katzen im Schatten dösen und Lavendel und Rosmarin aus den Gärten duften. Wer zwischen 11 und 15 Uhr auch nur einen Finger hebt, ist mit Sicherheit Tourist.

Die Gegend ist ein Hotspot der Frühgeschichte, konserviert in unzähligen Höhlen, die das Wasser der Dordogne und anderer Flüsse in die Uferklippen gegraben hat. Hier reiht sich ein UNESCO-Welterbe an das nächste: die fabelhaften Malereien von Lascaux, 17.000 Jahre alt; die Felsensiedlungen von Les Eyzies, wo die diversen Homos (erectus, dann neandertalensis, dann sapiens) bereits vor 400.000 Jahren lebten und es bis heute tun. Unser Monsieur muss da überall seine Nase und seine Kamera reinstecken, um Bilder für einen Reiseführer zu machen.

Bébé und ich führen derweil das Basislager. Wir kaufen ein und kochen und waschen Wäsche und machen sauber und unterhalten den Herrn abends, wenn er zurückkehrt. In meinen freien Minuten tagträume ich von entspannten Tagen im Büro, rede mit anderen Erwachsenen und mache Sachen, die nicht sofort wieder aufgegessen/schmutzig gemacht/durcheinander gebracht werden.

Wir wohnen nahe St. Cyprien auf einem Campingplatz, direkt am Ufer der Dordogne. Unser Quartier ist ein „mobi-lohm“ wie der Franzose sagt (er meint: mobile home), also ein Plastikhäuschen mit Terrasse. Die Büchse wird tagsüber brüllend heiß und kühlt nachts rasend schnell aus. Bébé liebt das Ding, weil es so übersichtlich ist und weil selbst Fingerklemmen an den Schubladen kaum weh tut, da der überhitzte Kunststoff weich ist wie Gummi.

Wir teilen den Campingplatz und den großen Pool mit zwei Rentnerpaaren aus Holland. Das Schöne an den Franzosen ist, dass sie immer zur gleichen Zeit das Gleiche tun, etwa Abiturprüfungen schreiben, ins Restaurant gehen oder Urlaub machen. Zwischen dem 15. Juli und dem 15. August fahren sie synchron in die Ferien, weshalb man das Land und das schöne Wetter vorher und nachher fast für sich allein hat, zu Nebensaisonpreisen. Die Holländer scheinen in dieser Hinsicht die Antipoden der Franzosen zu sein: zu jeder Zeit an jedem Ort anzutreffen.

Das Kind und ich verdösen die Tage. Wir laufen am Fluss entlang, wir streicheln die Katzen, wir verstecken uns im Schrank, wir bauen „mobi-lohms“ aus Duplo. Mittags essen wir Radieschen, Tomaten, Gurken und kalte Nudeln, dann schwimmen wir im Pool (Bébé furchtlos in einem gelben Ring mit Hoseneinsatz). Am späten Nachmittag sehen wir fern: Am gegenüberliegenden Dordogne-Ufer kommen ältere Damen aus den Wiesen, legen ein Handtuch ins Gras und steigen würdevoll (da in Plastik-Latschen) in den Fluss. Dort verankern sie sich mit dem Hinterteil zwischen den Felsen – jede scheint ihren eigenen Platz dafür zu kennen – und lassen sich, nur noch mit den Köpfen herausschauend, den Blick stromabwärts gerichtet, vom kalten Flusswasser umspülen. Ich wüsste gern, was sich alles in ihnen löst, wenn sie so da sitzen. Blumenerde unter den Nägeln, Nackenverspannungen, Eheprobleme…

Die Damen baden, die Frösche quaken und endlich weht es kühl vom Wasser herüber. Da bin ich dann doch einverstanden mit Monsieur, der immer weg ist. Mit Bébé, der immer da ist. Und mit Frankreich, das so schwer vorankommt, aber in dem zumindest die Flüsse breit und stark und wunderschön fließen.

Foto 1-1Campingplatz an der Dordogne

photo 1_LR Bison-Mammuth-Rentier-Fresko in Lascaux II (Faksimile-Höhle des Originals)

photo 2_LR

Ein sehr zeitgenössisches Bison. Für dieses Foto riskierte der Fotograf seine Kamera und seine Gesundheit

Foto 2Bébé entdeckt im Museum einen urzeitlichen Höhlenbären

Au revoir (1)

Wir fangen an, au revoir zu sagen. In vier Wochen ist unsere Zeit auf dem grünen Hügel zu Ende.

Unglaublich, dass das schon ein ganzes Jahr gewesen sein soll. Dabei gibt es noch Gipfel zu besteigen, Dörfer zu durchschlendern, Menschen zu treffen. Meine Freundin S. bittet dringend darum, über ein Dorffest zu berichten (sie möchte tanzende Jungbauern sehen, vermute ich). Außerdem will uns ein benachbarter Bio-Bauer in die Geheimnisse homöopathischer Behandlungen für Kühe einweihen. Ich will über den Kräuter-Doktor im Dorf erzählen und über die Kreationisten-Sekte, die bei uns am Hang siedelt. Mitte Juni wollen wir noch den Almauftrieb von 200 Schafen miterleben…

Das erste au revoir sagen wir zu Bébés Kinderärztin Michèle. Das Kind liebt Michèle, seit sie im vergangenen Jahr einen Hörtest mit ihm durchgeführt hat – mittels einer Dose, aus der lautes Muhen klang. Bébé drehte ordnungsgemäß den Kopf in jeweils die Ecke der Praxis, aus der es muhte und fand die Sache äußerst unterhaltsam. Michèle ist die Frau, die “muh” macht. Das schafft Sympathien, nicht nur bei Bébé. Sie hat mit meiner Übersetzungshilfe geduldig sein deutsches Untersuchungsheft geführt (U3 bis U6) und kann inzwischen fehlerfrei “Kopfumfang”, “normal entwickelt” und sogar “Ständige Impfkommission” sagen.

Heute waren wir zum Impfen da. Ich musste in die Apotheke fahren, um den Impfstoff abzuholen, während Bébé bei Michèle blieb. Sie haben Doktor gespielt, schätze ich. Dann gab es je eine große Spritzen in beide Oberschenkel, wofür Michèle von Bébé übel beschimpft wurde. Am Ende bekam sie dann aber doch einen begeisterten, feuchten Kuss.

Au revoir, Michèle!

Amardeil

Frankreich ist keine Insel

Mein Mann steckt derzeit in den weit verzweigten Kalksandsteinhöhlen nahe Bordeaux. Das kann Wochen dauern. So weit, so normal.

Ich bin mir angesichts des Wahlerfolgs der Rechtsextremen in Frankreich allerdings nicht sicher, ob er diesmal nicht deutlich länger da unten bleibt. Denn Monsieur möchte vor Scham buchstäblich im Boden versinken, weil 25 Prozent seiner Landsleute bei der Europa-Wahl Marine le Pens giftigen Köder geschluckt haben, der nach einem endlich-wieder-stolzen Frankreich schmeckt, für die Franzosen, von den Franzosen. Täätää! Ohne Brüssel, ohne Ausländer und ohne den Pariser Filz aus Politik, Geld und Medien.

Bei uns im Dorf haben die meisten Leute für die Sozialisten oder die Grünen gestimmt (die Gegend ist eine alteingesessene Hippie-Hochburg), aber dennoch 22 Prozent für den Front National. Dabei haben die meisten hier noch nie einen Ausländer gesehen (außer mir und Bébé, aber der zählt nicht, weil er ja nur ein halber Ausländer ist). Es will mir einfach nicht in den Kopf, was diese Leute sich denken. Was soll der Mist: Wollt ihr ernsthaft wieder euren Pass zeigen, wenn ihr die dreißig Kilometer rüber nach Spanien zum Skifahren oder Sonnenbaden fahrt? Und wieder den Franc einführen, der das Land mit noch mehr Karacho in die Rezession sausen lassen wird als das ohnehin der Fall ist? Und was wird le Pens Rassismus wohl gegen die Arbeitslosigkeit ausrichten, hm?!

Monsieur wird nicht müde zu erklären, dass solche Überlegungen für FN-Wähler keine Rolle spielen. Entscheidend sei ihr Gefühl, all das NICHT zu wollen, was derzeit im Land passiert. Nein zur Homo-Ehe, nein zum Wahlrecht für EU-Bürger, nein zu Immigranten, nein zu Moscheen, nein zur politischen Klasse (nein zu schlechtem Wetter, zu verfaultem Camembert, zu Schwiegermutterbesuch…)

Der FN-Wähler fühlt sich von Globalisierung, konkurrierenden Märkten, Bildungs- und Technologiewettkampf überfordert. Dabei hatte er doch damals im Geographie-Unterricht gelernt, dass Frankreich eine Insel sei und von solchen Unannehmlichkeiten für immer und ewig verschont bliebe. Und jetzt auch noch diese galoppierende Anglisierung! Ze wörld spieks Inglish. Was für eine Kränkung. Da kann man ja nur wütend los kreischen: Non, non, non!

Ganz ähnlich reagiert übrigens Bébé, wenn er überdreht und übermüdet ist und ihm die Welt plötzlich allzu groß und bedrohlich erscheint. Bietet man ihm in dieser Stimmung sein Abendessen an, passiert folgendes: Nudeln? Paff, fliegen auf den Boden. Gekochte Möhrchen? Bäh, will ich nicht! Vollkornbrot, selbst gebacken. Apfel-Mango-Püree. Lecker Gurke. Kopfschütteln, wütendes Gekreisch. Nein! Will ich nicht, will ich nicht, will ich nicht.

Der Vorteil an Bébé wiederum ist, dass man ihn einfach ins Bett stecken kann, wo er sogleich den (linken!) Daumen in den Mund steckt, zufrieden nuckelnd einschläft und am nächsten Morgen als lupenreiner Demokrat erwacht. Neugierig, aufgeschlossen, tatkräftig und überaus lernwillig.

Wie sich diese Vorgehensweise auf den Front National übertragen ließe, ist mir noch nicht klar. Konstruktive Vorschläge sind willkommen, möglicherweise würden sie auch meinen Ehemann dazu bewegen, wieder ans Tageslicht (und zu mir) zurückzukehren. Herzlichen Dank.

Tschüss, Uroma!

Meine Uroma ist gestorben. Sie war die Mama von der Mama von Papa und sehr alt, nämlich 91 Jahre und damit 90 Jahre älter als ich.

Nicht dass ihr euch wundert: Dies ist ja eigentlich Mamas Blog, aber Mama fühlt sich gerade nicht nach Schreiben, weil wir eine lange Reise hinter uns haben (wir waren zwei Tage weg und saßen davon mehr als die Hälfte im Auto). Deshalb nehme ich die Sache in die Hand und erzähle euch davon. Ihr ahnt, wer hier spricht: Ich bin’s – Bébé.

Also. Meine Uroma ist in ihrer Küche hingefallen und hat sich einen Knochen gebrochen, der Oberschenkelhalsknochen heißt (lustig, dass auch der Oberschenkel einen Hals hat). Im Krankenhaus haben die Ärzte die Köpfe geschüttelt und gesagt, den Knochen könnten sie flicken, aber der Rest von Uroma sei zu zerbrechlich, um die Oberschenkelhalsknochenreparatur zu überstehen. Dann lasst doch den Quatsch mit der Reparatur, habe ich gesagt, aber die Großen verstehen ja immer nur gaga und dada und hören mir nicht richtig zu.

Die Operation ist gelungen, weil meine Uroma ein großes, starkes Herz hat. Sie war schon mit einem Bein aus dem Krankenhaus raus (mit welchem Bein, ob mit dem gesunden oder dem geflickten, weiß ich nicht). Letzten Samstag hat sie groß gefrühstückt (das machen Franzosen normalerweise nicht, also war das vielleicht schon ein schlechtes Zeichen) und dann hat sie ein Schläfchen gemacht, so gegen 11 Uhr (genau wie ich immer), und das Schläfchen hat gedauert und gedauert und dann war sie tot. So was kann alten Leuten passieren. 

Dann sind wir ewig Auto gefahren (9 Stunden, hat Mama gesagt), denn Frankreich ist groß und meine Uroma wohnte am anderen Ende, nämlich in der Normandie. Ich habe einen neuen Autositz (cooles Teil, schon für große Kinder), aber nach einer Weile fand ich es nicht mehr so cool, da drin zu sitzen. Mama reichte mir immer andere Spielsachen, die habe ich vor Wut durchs Auto geworfen. Kann man das Reisen nicht komfortabler gestalten?!

Dann sind wir in dem Dorf von Uroma angekommen. Sie hat ein Haus, das selbst mir winzig vorkam. Auf den Tapeten waren Blumen, die wie echt aussahen. Das Häuschen war voller schwarz angezogener Leute, ich war der Einzige in bunt (und noch ein paar andere Kinder). Dann fuhr ein schwarzes Auto vor, hinten lag eine Holzkiste drin, und da wiederum, hat Papa mir erklärt, war Uroma drin (wieso liegt sie in einer Kiste? Warum lassen sie nicht wenigstens den Deckel offen, damit sie den Himmel sehen kann?)

Wir sind hinter dem Auto her zur Kirche gelaufen und als es anfing zu regnen, habe ich verstanden, warum der Deckel von der Kiste zu ist! Klar, damit Uroma nicht nass wird. Die Kirche war ziemlich voll, weil Uroma das ganze Dorf kannte und in vielen Vereinen war, zum Beispiel im Verein für Flüchtlinge, die aus ihren eigenen Ländern weg mussten und in Uromas Dorf untergekommen sind. Sie selbst ist in dem Dorf geboren und nie weggegangen, sie war eine Müllerstochter (wie im Märchen). Später hat sie einen Bauern geheiratet und ihr Leben als Bäuerin war nicht mehr ganz so wie im Märchen.

Papa und seine zwei Brüder haben die Holzkiste in die Kirche getragen. Weil die Kiste vier Griffe hat, fasste mein großer Cousin Victor mit an. So sind sie durch den Regen gelaufen und nass geworden, aber das hat sie gar nicht gestört. Papa sah dabei ganz traurig aus und die Tropfen in seinem Gesicht kamen bestimmt nicht nur vom Regen. In der Kirche saßen wir in der ersten Reihe und vorn stand ein Mann im langen weißen Kleid. Der sah so lustig aus, dass ich vor Freude geklatscht habe! Es wurde viel Musik gespielt, was ich auch super fand. Mein Onkel Greg hat Geige gespielt und ein Chor hat gesungen und dann kam aus dem CD-Player noch ein Lied, das Halleluja heißt, es ist von Leonard Cohen, gesungen von Jeff Buckley (mein Onkel Jule ist Musiker und weiß solche Sachen). Ich habe laut mitgesungen: Haaa-leee-luuu-jaa! Ein schönes Lied.

Ich wäre sehr gerne die Stufen zu dem Mann im weißen Kleid herauf geklettert und hätte im Vorbeikrabbeln ein paar Blumen für Uroma gepflückt, es standen ja genug herum, aber Mama hat mich festgehalten und als ich protestieren wollte, durfte ich mit ihrem Telefon spielen und danach mit dem Autoschlüssel. Okay, dachte ich, auch gut. (Hinterher haben alle gesagt, ich sei sehr sage gewesen, das heißt brav auf französisch und in Frankreich scheint es die wichtigste Eigenschaft von Kindern zu sein, den Erwachsenen nicht auf den Wecker zu gehen. Dabei war ich gar nicht brav, sondern einfach sehr beschäftigt).

Am Schluss sind alle einmal um die Holzkiste herumgegangen. Vorn stand ein schwarz-weißes Foto von Uroma (wieso schwarz-weiß? Sie war doch farbig, meine Uroma, vor allem ihre Strickjacken). Ich war auf Mamas Arm und als wir an dem Foto vorbei kamen, hat sie gesagt, ich soll mal winken. Au revoir, Uroma! Hab ich gemacht und als Papa das sah, musste er schon wieder heulen.

Dann sind wir zum Friedhof gelaufen und ich vermute, dass unter den großen Steinen noch andere Holzkisten mit toten Uromas und -opas und was weiß ich für Leuten drin lagen. Unsere Kiste kam in ein Loch und da standen meine Oma und ihre Schwestern davor und haben weiße Rosen rein geworfen. Was dann passierte, kann ich nicht sagen, denn Mama war der Meinung, das ich schlafen soll und hat die Lehne vom Buggy zurückgeklappt. Da ich im Buggy angeschnallt bin, klappe ich automatisch mit um und kann nichts mehr sehen. Dabei wollte ich gar nicht schlafen, sondern in das Loch gucken! Ich muss dann aber doch eingeschlafen sein, denn auf einmal standen Mama und ich allein auf dem Friedhof. Sie hat gewartet, bis die anderen weg waren, weil sie ein bisschen allein sein wollte mit mir und Uroma. Ein Gärtner hat uns geholfen, die vielen Briefe einzusammeln, die an den Blumensträußen hingen. Die wären sonst im Regen aufgeweicht (waren das Briefe an Uroma? Liest sie die nachts, wenn sie rauskommt wie die Maulwürfe und Füchse bei uns im Garten?)

Dann waren wir wieder im Haus von Uroma und es war so voll, dass einige Leute auf der Straße standen. Ich durfte Brioche essen (das darf ich sonst nicht, weil da Zucker drin ist und wenn Mama Zucker hört, wedelt sie aufgeregt mit den Händen, als würde sie eine Wespe verscheuchen. Sie ist manchmal komisch, meine Mama). Ich habe schleunigst ein Riesenstück in den Mund gesteckt (wer weiß, wann ich je wieder Brioche kriege?) und den Rest auf den Boden gekrümelt und die Krümel dann möglichst weit verteilt, damit meine Uroma weiß, dass ich da war. Da die Großen ja immer sofort alles auffegen müssen, habe ich zur Sicherheit noch ein paar Krümel unter den Schrank geschoben. Meine Uroma wird das schon verstehen. Guck mal, die sind für dich, meine Liebe! Haaa-lee-luu-jaa! Tschüss.

Dein Bébé.

P.S. Guckt mal, ich hab noch Fotos von mir und Uroma gefunden. Papa hat sie letztes Jahr gemacht, als ich noch voll das Baby war. Irre lange her. Aber Uromas verändern sich nicht so schnell wie Babys (weiß auch nicht, warum), ihr bekommt also einen Eindruck.

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Star Wars

Gespräch mit R., acht Jahre alt, Sohn meines Mannes aus einem früheren Leben und gerade bei uns in den Ferien. Er liebt Lego und die kriegerische Science-Fiction-Welt von Star Wars. Beides kombiniert er, indem er mit Hingabe und Präzision extraterrestrische Schlachtfelder auf unserer Terrasse errichtet.

R.: Guck mal, Helen, ich hab hier eine Barrikade gebaut. Da ballern die Bösen runter und wollen die Jedi-Ritter auslöschen, zz-ztosch, zz-ztosch.
Ich: Und sterben die dann wirklich?
R.: Quatsch, sind doch aus Lego.
Ich: Und wie ist das in einem echten Krieg?
R.: Na, da kann man die Soldaten nicht einfach wieder hinstellen. Die sterben. So wie in Syrien.
Ich: Findest du das schlimm?
R.: Hä? Jetzt pass mal auf, die Jedis haben sich total clever formiert und schlagen zurück, t-t-t-t-t-wumm-wumm. Mindestens hundert Tote.
Ich: Die gibt es auch jeden Tag in Syrien.
R.: Weiß ich, das ist nicht witzig. Aber es gibt ja auch nette Soldaten, so wie dieser hier. Guck, der hat ‘ne Blume am Popo.
Ich: Wieso hat er eine Blume am Popo?
R.: Das ist ein pazifistischer Soldat!
Ich: Echt? So was gibt’s bei Star Wars, ist ja toll.
R.: Haha, reingelegt! Der läuft gerade durch ein Schlachtfeld voller Blumen und tarnt sich.

Star Wars

Darauf einen Birkensaft

Wir sind bei Christophe zum Abendessen eingeladen. Christophe ist ein befreundeter Höhlenbär (Monsieur hat hier ein ganzes Rudel gefunden, mit dem er sonntags erst auf und dann buchstäblich in die Berge klettert).

Wie alle Vertreter der Spezies Höhlenbär ist Christophe drahtig, bärtig, in Outdoor-Klamotten (weil meistens outdoor). Er wohnt drei Hügel von uns entfernt in einem selbst gebauten Holzhaus, in das er eine etwa sechs Meter hohe Kletterwand eingebaut hat. Ich stelle mir vor, wie Christophe abends an einem Gurt unter der Decke baumelt und Klettergriffe übt, während unten der Braten im Ofen schmort und seine vier Kinder Comics gucken oder Hausaufgaben machen. Wo ist die Mutter der Kinder, frage ich. Die Mütter, sagt Christophe. Beide würden um die Ecke wohnen und seien sehr beschäftigt, weshalb die Kinder meistens bei ihm seien. Oh, interessant, sage ich, und will weiter nach dem Wie, Was und Warum fragen. Aber mehr gibt es dazu von Christophs Seite nicht zu sagen und Monsieur ist mir überhaupt nicht dabei behilflich, mehr über die Familiengeschichte zu erfahren, denn schon fachsimpeln die Beiden über die beste Technik, Terrakotta-Fliesen zu verlegen…

Bevor wir essen, will Christophe uns etwas zeigen. Wir zwängen uns in seinen total zerbeulten Fiat und hoppeln einen Feldweg hoch, der selbst für Geländewagen oder Trecker eine Herausforderung wäre. Autofahren ohne Kindersitz! Bébé hüpft hinten auf Papas Schoß und findet es spektakulär lustig. 

Wir halten an einem Birkenwald. Christophs Birkenwald. Das Abendlicht fällt schräg in das frische Blattwerk und malt Frühlingsfarben in die Luft: hellgrün und golden. Christoph streicht durch die Bäume, berührt hier einen Stamm, schaut dort in eine Krone. Die Birke, die er sucht, soll schon sprießen, darf aber noch keine entwickelten Blätter haben. Die ganze Energie muss noch im Stamm stecken. Schließlich hat Christophe ein Exemplar gefunden, zückt einen Akku-Bohrer und bohrt etwa einen halben Meter über den Wurzeln leicht schräg nach oben in den Stamm. Aus dem Loch tröpfelt flott eine klare Flüssigkeit. Voilà, sagt Christoph, schiebt einen Plastikschlauch ins Holz und hängt einen Plastik-Kanister dran – sève de bouleau. Birkensaft? Genau. Zwei oder drei Wochen lang jeden Morgen ein kleines Glas davon, zimmerwarm. Das vertreibe die Wintergeister (Grübelei, Antriebshemmung, Zukunftsängste etc) Außerdem sei man während des ganzen Jahres seltener krank, Infekte und Wunden würden schneller abheilen und man fühle sich insgesamt zum Bäume ausreißen. Er müsse es wissen, sagt Christophe, denn seit er als Teenager aus einer Felswand gestürzt sei, sich so ziemlich jeden Knochen gebrochen habe und seitdem zu einem Großteil aus Metall bestehe (mit den entsprechenden Schmerzen), gebe ihm der Birkensaft die Kraft, sich nicht zu schonen.

So viel redet Christophe normalerweise nie am Stück und ich weiß nicht, ob ich zuerst ihn oder den Baum umarmen soll. Wir probieren den Birkensaft. Er schmeckt moosig, mineralisch, nach Erde. Gar nicht schlecht.  Der Kanister hängt nun 24 Stunden an der Birke und “melkt” in dieser Zeit etwa fünf Liter. Mehr darf es nicht sein, ohne dass der Baum Schaden nimmt. Morgen Abend wird Christophe ihm einen maßgenauen Stöpsel für das Loch schnitzen, um Parasiten fern zu halten. Christophe zapft seine Bäume nur für sich, seine Kinder und ein paar Nachbarn an. In diesen Wochen sehen wir Flaschen mit Birkensaft aber auch auf Märkten und in Bio-Läden, der Liter kostet um die 10 Euro.

Wir rumpeln zurück und bekommen ein Vier-Gänge-Menü, das bis auf den Nachtisch aus Fleisch besteht. Aber wie lecker! Christophe reicht selbst gemachte Pastete als Vorspeise, es folgt hausgemachter Schinken (eingesalzen und auf der Terrasse bergluftgetrocknet). Dann ein Schweinebraten mit Kartoffeln und Möhren aus dem eigenen Garten und schließlich Erdbeeren (aus dem Supermarkt) mit cremigem Yoghurt à la Christophe.

Durch die offene Küchentür weht es mild herein, über dem Hausberg (der auch unser Hausberg ist) ziehen die Sterne auf. Bébé bekam eine gedünstete Möhre und Christophes Vollmilchyoghurt zum Abendessen und schlummert nun draußen im Kinderwagen. Gut bewacht von Christophes leicht übergewichtigen Labrador Angie (“Seht euch seine Lefzen an”, sagt er, “der Hund hat  Ähnlichkeit mit Frau Merkel”).

Wir reden, wir lachen. Wir sind zu Gast bei einem Freund. Ich glaube, der Birkensaft wirkt schon.

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