Monthly Archives: April 2014

Darauf einen Birkensaft

Wir sind bei Christophe zum Abendessen eingeladen. Christophe ist ein befreundeter Höhlenbär (Monsieur hat hier ein ganzes Rudel gefunden, mit dem er sonntags erst auf und dann buchstäblich in die Berge klettert).

Wie alle Vertreter der Spezies Höhlenbär ist Christophe drahtig, bärtig, in Outdoor-Klamotten (weil meistens outdoor). Er wohnt drei Hügel von uns entfernt in einem selbst gebauten Holzhaus, in das er eine etwa sechs Meter hohe Kletterwand eingebaut hat. Ich stelle mir vor, wie Christophe abends an einem Gurt unter der Decke baumelt und Klettergriffe übt, während unten der Braten im Ofen schmort und seine vier Kinder Comics gucken oder Hausaufgaben machen. Wo ist die Mutter der Kinder, frage ich. Die Mütter, sagt Christophe. Beide würden um die Ecke wohnen und seien sehr beschäftigt, weshalb die Kinder meistens bei ihm seien. Oh, interessant, sage ich, und will weiter nach dem Wie, Was und Warum fragen. Aber mehr gibt es dazu von Christophs Seite nicht zu sagen und Monsieur ist mir überhaupt nicht dabei behilflich, mehr über die Familiengeschichte zu erfahren, denn schon fachsimpeln die Beiden über die beste Technik, Terrakotta-Fliesen zu verlegen…

Bevor wir essen, will Christophe uns etwas zeigen. Wir zwängen uns in seinen total zerbeulten Fiat und hoppeln einen Feldweg hoch, der selbst für Geländewagen oder Trecker eine Herausforderung wäre. Autofahren ohne Kindersitz! Bébé hüpft hinten auf Papas Schoß und findet es spektakulär lustig. 

Wir halten an einem Birkenwald. Christophs Birkenwald. Das Abendlicht fällt schräg in das frische Blattwerk und malt Frühlingsfarben in die Luft: hellgrün und golden. Christoph streicht durch die Bäume, berührt hier einen Stamm, schaut dort in eine Krone. Die Birke, die er sucht, soll schon sprießen, darf aber noch keine entwickelten Blätter haben. Die ganze Energie muss noch im Stamm stecken. Schließlich hat Christophe ein Exemplar gefunden, zückt einen Akku-Bohrer und bohrt etwa einen halben Meter über den Wurzeln leicht schräg nach oben in den Stamm. Aus dem Loch tröpfelt flott eine klare Flüssigkeit. Voilà, sagt Christoph, schiebt einen Plastikschlauch ins Holz und hängt einen Plastik-Kanister dran – sève de bouleau. Birkensaft? Genau. Zwei oder drei Wochen lang jeden Morgen ein kleines Glas davon, zimmerwarm. Das vertreibe die Wintergeister (Grübelei, Antriebshemmung, Zukunftsängste etc) Außerdem sei man während des ganzen Jahres seltener krank, Infekte und Wunden würden schneller abheilen und man fühle sich insgesamt zum Bäume ausreißen. Er müsse es wissen, sagt Christophe, denn seit er als Teenager aus einer Felswand gestürzt sei, sich so ziemlich jeden Knochen gebrochen habe und seitdem zu einem Großteil aus Metall bestehe (mit den entsprechenden Schmerzen), gebe ihm der Birkensaft die Kraft, sich nicht zu schonen.

So viel redet Christophe normalerweise nie am Stück und ich weiß nicht, ob ich zuerst ihn oder den Baum umarmen soll. Wir probieren den Birkensaft. Er schmeckt moosig, mineralisch, nach Erde. Gar nicht schlecht.  Der Kanister hängt nun 24 Stunden an der Birke und “melkt” in dieser Zeit etwa fünf Liter. Mehr darf es nicht sein, ohne dass der Baum Schaden nimmt. Morgen Abend wird Christophe ihm einen maßgenauen Stöpsel für das Loch schnitzen, um Parasiten fern zu halten. Christophe zapft seine Bäume nur für sich, seine Kinder und ein paar Nachbarn an. In diesen Wochen sehen wir Flaschen mit Birkensaft aber auch auf Märkten und in Bio-Läden, der Liter kostet um die 10 Euro.

Wir rumpeln zurück und bekommen ein Vier-Gänge-Menü, das bis auf den Nachtisch aus Fleisch besteht. Aber wie lecker! Christophe reicht selbst gemachte Pastete als Vorspeise, es folgt hausgemachter Schinken (eingesalzen und auf der Terrasse bergluftgetrocknet). Dann ein Schweinebraten mit Kartoffeln und Möhren aus dem eigenen Garten und schließlich Erdbeeren (aus dem Supermarkt) mit cremigem Yoghurt à la Christophe.

Durch die offene Küchentür weht es mild herein, über dem Hausberg (der auch unser Hausberg ist) ziehen die Sterne auf. Bébé bekam eine gedünstete Möhre und Christophes Vollmilchyoghurt zum Abendessen und schlummert nun draußen im Kinderwagen. Gut bewacht von Christophes leicht übergewichtigen Labrador Angie (“Seht euch seine Lefzen an”, sagt er, “der Hund hat  Ähnlichkeit mit Frau Merkel”).

Wir reden, wir lachen. Wir sind zu Gast bei einem Freund. Ich glaube, der Birkensaft wirkt schon.

GUI_6694

GUI_6686

GUI_6672

GUI_6680

GUI_6665

GUI_6663
GUI_6718

GUI_6721
GUI_6702

Madame Bürgermeister

Schon erreichen mich Beschwerden, ich hätte so lange nichts geschrieben. Stimmt – mir fällt nichts ein. Denn hier passiert gerade nichts Aufregendes. Und da soll man doch lieber die Klappe halten und seine teuren Leser nicht mit Banalitäten belästigen. Dafür gibt es schließlich Facebook.

Gestern konnte ich aber doch eine kleine Geschichte aufsammeln. Sie lag gewissermassen auf der Straße, oder besser: an der Straße. Bébé und ich gehen jeden Tag und bei jedem Wetter spazieren. Er fährt, ich schiebe. In romantischer Verklärung des Landlebens erwartete ich vor unserem Umzug hierher, dass ich stundenlang mit dem Kinderwagen durch Feld und Wiesen gehen würde und dabei andere Fußgänger unter der Landbevölkerung kennenlernen würde. Ah, non! Diese Zeiten sind seit ungefähr 100 Jahren vorbei. Die Landbevölkerung fährt Auto (weißer Renault Express, das Bauern-Auto), Trecker oder Moped. Zu Fuß gehen nur Verwirrte, Obdachlose oder Touristen. Weshalb die Auswahl an kinderwagenbefahrbaren Wegen sehr begrenzt ist. Zur Auswahl stehen: Holperweg oder Landstraße. Bébé und ich haben eine Kombination daraus erkundschaftet (etwa 80 % Holperweg, 20 % Landstraße).

Die übliche Tour geht den Hügel hinunter, wo ich die ersten Köter (es kommen noch mehr!) davon abhalte, das Baby zu fressen. Dann gucken wir Hühner. Gegenüber wohnt eine freundliche Ziege, für die ich Blümchen pflücken muss, die das Kind dann glucksend verfüttert. Dann biegen wir auf die Hauptstraße ein und gehen am einzigen (seit Jahrzehnten geschlossenen) Café des Ortes vorbei. Drinnen wohnen zwei Leutchen, die das Café genauso bewohnen, wie es wohl kurz vor der Schließung Ende der 1960er Jahre ausgesehen hat: Tische und Stühle stehen im Raum, hinter der Theke eine prähistorische Kaffeemaschine, leere Glasvitrinen für Croissants und Kuchen, in den Regalen verstaubte Pastis-Flaschen. Am Türknauf hängt der Gehstock von Madame. Bei gutem Wetter sitzen sie und ihr patron draußen unter einem Orangina-Sonnenschirm und lesen das Lokalblatt. Beide grüßen uns inzwischen (wir sind ja auch erst 7 Monate hier und haben jeden Tag bonjour in unbewegte Gesichter gesagt, bis sie dann endlich, so um Weihnachten herum, geantwortet haben).

Auf dem Weg zum Feld mit den braunen Kühen (danach kommen die schwarz-weißen, die das Baby lustiger findet, weil sie neugieriger sind und direkt an den Zaun trotten, vor allem die mit der Ohrmarke Nr. 2845, aber das ist jetzt nicht so wichtig) liegt linker Hand Saint-Sébastien. Die Kirche ist immer abgeschlossen. Ist sie baufällig? Oder einfach so zu? Ich wußte es nie, war aber immer neugierig. Und wie es der Zufall will, steht die Tür offen und ich sehe darin gerade noch einen fleischigen Arm mit Kehrblech in der Hand verschwinden. Festhalten, Baby! Wir können mit Kinderwagen nicht die Stufen hoch, sausen also den Umweg über den Friedhof, Gatter auf, Slalom durch die massigen Grabmäler. Jetzt bloß keine Vasen mit Plastikblumen umwerfen! Wir parken vor dem Portal, Bébé fliegt aus dem Gurt und mir in den Arm. Dann tappen wir durch die Tür ins Dunkle.

Der schlichte Steinbau ist innen überraschend barock: silberne Sterne auf dunkelblauem Himmel schimmern an der Kirchendecke und das Jesuskind überm Altar hat rosa Bäckchen. Ihm zu Füßen feudelt eine dicke Dame. Bonjour. Ich halte ihr das Baby als “Eisbrecher” hin und es macht, was es soll: strahlend lächeln. Schon fließt die Unterhaltung. Saint-Sébastien sei seit Jahrzehnten geschlossen, weil es zwar eine gläubige Gemeinde, aber keinen Priester gebe. Priestermangel, sagt Madame bedauernd, sei in ganz Frankreich ein großes Problem. Sie mache hier regelmäßig sauber, damit die Kirche nicht ganz verkomme. Saubermachen sei aber nicht alles, was sie tue, sondern… Sie stockt. Ich soll nachfragen. Ich frage. Sie sagt: Ich bin die neue Bürgermeisterin, Janine. Gewählt mit 73,3 Prozent der 217 Wählerstimmen. Enchanté.

In Frankreich waren gerade Kommunalwahlen. Für die Leute in den kleinen Orten ist der Bürgermeister fast wichtiger als der Präsident. Janine bekommt für ihren Job kein Geld (das gibt’s erst ab 1000 Einwohnern), aber einen Haufen Arbeit, denn in Frankreich geht man mit allen nur denkbaren Anliegen, Beschwerden, Streitigkeiten und wahrscheinlich auch bei Fußpilz zum Bürgermeister. Egal, ob jemand einen neuen Kuhstall bauen will,  eine Wasserleitung geplatzt ist oder zwei Nachbarn um die exakte Grundstücksgrenze streiten – immer muss der Bürgermeister ran. Er ist auch Vermittler zu den höheren Verwaltungsebenen, derer es hier SEHR viele gibt: Dorf, Kanton, Kommune, Kommunenverbund, Département, Region, Nation (stark vereinfachte Darstellung). Da stapeln sich gut bezahlte Beamte, mit denen Janine in den kommenden sechs Jahren langatmigen Schriftverkehr führen wird. Es wäre wirklich kein Wunder, wenn Frankreich bald pleite wäre.

Ich bin nicht politisch, sagt Janine. Sie gehört keiner Partei an. Was und mit wem es ein Monsieur Hollande im fernen Paris treibt, ist ihr schnurz. Sie will neben der Versorgung ihrer 30 Kühe, eines Trupps Hühner, ihres Enkels (dem sie jeden Tag das Mittagessen kocht) und der Reinigung von Saint-Sébastien einfach noch eine Aufgabe haben.

Foto 4