Meine Uroma ist gestorben. Sie war die Mama von der Mama von Papa und sehr alt, nämlich 91 Jahre und damit 90 Jahre älter als ich.
Nicht dass ihr euch wundert: Dies ist ja eigentlich Mamas Blog, aber Mama fühlt sich gerade nicht nach Schreiben, weil wir eine lange Reise hinter uns haben (wir waren zwei Tage weg und saßen davon mehr als die Hälfte im Auto). Deshalb nehme ich die Sache in die Hand und erzähle euch davon. Ihr ahnt, wer hier spricht: Ich bin’s – Bébé.
Also. Meine Uroma ist in ihrer Küche hingefallen und hat sich einen Knochen gebrochen, der Oberschenkelhalsknochen heißt (lustig, dass auch der Oberschenkel einen Hals hat). Im Krankenhaus haben die Ärzte die Köpfe geschüttelt und gesagt, den Knochen könnten sie flicken, aber der Rest von Uroma sei zu zerbrechlich, um die Oberschenkelhalsknochenreparatur zu überstehen. Dann lasst doch den Quatsch mit der Reparatur, habe ich gesagt, aber die Großen verstehen ja immer nur gaga und dada und hören mir nicht richtig zu.
Die Operation ist gelungen, weil meine Uroma ein großes, starkes Herz hat. Sie war schon mit einem Bein aus dem Krankenhaus raus (mit welchem Bein, ob mit dem gesunden oder dem geflickten, weiß ich nicht). Letzten Samstag hat sie groß gefrühstückt (das machen Franzosen normalerweise nicht, also war das vielleicht schon ein schlechtes Zeichen) und dann hat sie ein Schläfchen gemacht, so gegen 11 Uhr (genau wie ich immer), und das Schläfchen hat gedauert und gedauert und dann war sie tot. So was kann alten Leuten passieren.
Dann sind wir ewig Auto gefahren (9 Stunden, hat Mama gesagt), denn Frankreich ist groß und meine Uroma wohnte am anderen Ende, nämlich in der Normandie. Ich habe einen neuen Autositz (cooles Teil, schon für große Kinder), aber nach einer Weile fand ich es nicht mehr so cool, da drin zu sitzen. Mama reichte mir immer andere Spielsachen, die habe ich vor Wut durchs Auto geworfen. Kann man das Reisen nicht komfortabler gestalten?!
Dann sind wir in dem Dorf von Uroma angekommen. Sie hat ein Haus, das selbst mir winzig vorkam. Auf den Tapeten waren Blumen, die wie echt aussahen. Das Häuschen war voller schwarz angezogener Leute, ich war der Einzige in bunt (und noch ein paar andere Kinder). Dann fuhr ein schwarzes Auto vor, hinten lag eine Holzkiste drin, und da wiederum, hat Papa mir erklärt, war Uroma drin (wieso liegt sie in einer Kiste? Warum lassen sie nicht wenigstens den Deckel offen, damit sie den Himmel sehen kann?)
Wir sind hinter dem Auto her zur Kirche gelaufen und als es anfing zu regnen, habe ich verstanden, warum der Deckel von der Kiste zu ist! Klar, damit Uroma nicht nass wird. Die Kirche war ziemlich voll, weil Uroma das ganze Dorf kannte und in vielen Vereinen war, zum Beispiel im Verein für Flüchtlinge, die aus ihren eigenen Ländern weg mussten und in Uromas Dorf untergekommen sind. Sie selbst ist in dem Dorf geboren und nie weggegangen, sie war eine Müllerstochter (wie im Märchen). Später hat sie einen Bauern geheiratet und ihr Leben als Bäuerin war nicht mehr ganz so wie im Märchen.
Papa und seine zwei Brüder haben die Holzkiste in die Kirche getragen. Weil die Kiste vier Griffe hat, fasste mein großer Cousin Victor mit an. So sind sie durch den Regen gelaufen und nass geworden, aber das hat sie gar nicht gestört. Papa sah dabei ganz traurig aus und die Tropfen in seinem Gesicht kamen bestimmt nicht nur vom Regen. In der Kirche saßen wir in der ersten Reihe und vorn stand ein Mann im langen weißen Kleid. Der sah so lustig aus, dass ich vor Freude geklatscht habe! Es wurde viel Musik gespielt, was ich auch super fand. Mein Onkel Greg hat Geige gespielt und ein Chor hat gesungen und dann kam aus dem CD-Player noch ein Lied, das Halleluja heißt, es ist von Leonard Cohen, gesungen von Jeff Buckley (mein Onkel Jule ist Musiker und weiß solche Sachen). Ich habe laut mitgesungen: Haaa-leee-luuu-jaa! Ein schönes Lied.
Ich wäre sehr gerne die Stufen zu dem Mann im weißen Kleid herauf geklettert und hätte im Vorbeikrabbeln ein paar Blumen für Uroma gepflückt, es standen ja genug herum, aber Mama hat mich festgehalten und als ich protestieren wollte, durfte ich mit ihrem Telefon spielen und danach mit dem Autoschlüssel. Okay, dachte ich, auch gut. (Hinterher haben alle gesagt, ich sei sehr sage gewesen, das heißt brav auf französisch und in Frankreich scheint es die wichtigste Eigenschaft von Kindern zu sein, den Erwachsenen nicht auf den Wecker zu gehen. Dabei war ich gar nicht brav, sondern einfach sehr beschäftigt).
Am Schluss sind alle einmal um die Holzkiste herumgegangen. Vorn stand ein schwarz-weißes Foto von Uroma (wieso schwarz-weiß? Sie war doch farbig, meine Uroma, vor allem ihre Strickjacken). Ich war auf Mamas Arm und als wir an dem Foto vorbei kamen, hat sie gesagt, ich soll mal winken. Au revoir, Uroma! Hab ich gemacht und als Papa das sah, musste er schon wieder heulen.
Dann sind wir zum Friedhof gelaufen und ich vermute, dass unter den großen Steinen noch andere Holzkisten mit toten Uromas und -opas und was weiß ich für Leuten drin lagen. Unsere Kiste kam in ein Loch und da standen meine Oma und ihre Schwestern davor und haben weiße Rosen rein geworfen. Was dann passierte, kann ich nicht sagen, denn Mama war der Meinung, das ich schlafen soll und hat die Lehne vom Buggy zurückgeklappt. Da ich im Buggy angeschnallt bin, klappe ich automatisch mit um und kann nichts mehr sehen. Dabei wollte ich gar nicht schlafen, sondern in das Loch gucken! Ich muss dann aber doch eingeschlafen sein, denn auf einmal standen Mama und ich allein auf dem Friedhof. Sie hat gewartet, bis die anderen weg waren, weil sie ein bisschen allein sein wollte mit mir und Uroma. Ein Gärtner hat uns geholfen, die vielen Briefe einzusammeln, die an den Blumensträußen hingen. Die wären sonst im Regen aufgeweicht (waren das Briefe an Uroma? Liest sie die nachts, wenn sie rauskommt wie die Maulwürfe und Füchse bei uns im Garten?)
Dann waren wir wieder im Haus von Uroma und es war so voll, dass einige Leute auf der Straße standen. Ich durfte Brioche essen (das darf ich sonst nicht, weil da Zucker drin ist und wenn Mama Zucker hört, wedelt sie aufgeregt mit den Händen, als würde sie eine Wespe verscheuchen. Sie ist manchmal komisch, meine Mama). Ich habe schleunigst ein Riesenstück in den Mund gesteckt (wer weiß, wann ich je wieder Brioche kriege?) und den Rest auf den Boden gekrümelt und die Krümel dann möglichst weit verteilt, damit meine Uroma weiß, dass ich da war. Da die Großen ja immer sofort alles auffegen müssen, habe ich zur Sicherheit noch ein paar Krümel unter den Schrank geschoben. Meine Uroma wird das schon verstehen. Guck mal, die sind für dich, meine Liebe! Haaa-lee-luu-jaa! Tschüss.
Dein Bébé.
P.S. Guckt mal, ich hab noch Fotos von mir und Uroma gefunden. Papa hat sie letztes Jahr gemacht, als ich noch voll das Baby war. Irre lange her. Aber Uromas verändern sich nicht so schnell wie Babys (weiß auch nicht, warum), ihr bekommt also einen Eindruck.