Monthly Archives: January 2014

Rotz und gut

“Hast lange nichts gebloggt”, sagt meine Mutter am Telefon. “Kommt da bald was?”
“Ich ziehe dein rotznasiges Enkelkind auf. Das ist ein Vollzeitjob, du erinnerst dich vielleicht.”
Sie, im heile-heile-Segen-Ton: “Ist ja gut.”

Stimmt: Es ist ja gut! Es ist alles, alles gut! Wir haben Vorfrühling vor beschneiter Bergkulisse. Der Feigenbaum knospt; auf der Wiese nebenan darf der Bulle wieder unter seinen Kühen weilen und kommt dort sehr engagiert seinen Pflichten nach. Mir gelingt inzwischen das Vollkorn-Sauerteigbrot nahezu perfekt: außen kross, innen saftig. Man kann schließlich nicht nur von Baguette leben. Also, wo ist das Problem?

Es ist der Rotz. Er begleitet uns seit fünf Wochen. Von unseren Weihnachtsgästen bekamen wir eine schöne Auswahl europäischer Erkältungsviren mitgebracht, von denen wir seither jedes einzelne  unter vollem Körpereinsatz testen. Erst Bébé, dann Monsieur und ich, dann wieder Bébé, jetzt gerade Bébé und ich gemeinsam. Ich kann vieles aushalten, aber wieder und wieder den Stecker gezogen zu bekommen wegen Rotz und wieder Rotz, das macht mich irre.

Die Kinderärztin verschrieb dafür gestern eine Lösung, wenigstens fürs Kind: mouche bébé, eine Baby-Rotzpumpe. Im Prinzip ein Schläuchlein mit zwei Enden. Das eine kommt in Babys Nasenloch, das andere nimmt Mama in den Mund und saugt (nicht Papa, siehe Packung!). Das Teil ist aus transparentem Plastik, sonst würde man einfach nicht glauben, was so alles aus einer Kindernase fließen kann.

Und selbstverständlich verläuft die Anwendung der Rotzpumpe bei uns haargenau so wie auf dem Foto der Packung gezeigt: Das Baby reckt lächelnd sein Näschen empor, bläht gar vergnügt die Nüstern und hält dabei schöööön still, damit maman in aller Ruhe zu Werke gehen kann, natürlich mit perfekt manikürten und kirschrot lackierten Nägeln…

Was lernen wie daraus?

1. Mein Leben ist (fast) ein Werbefoto.
2.  Fällt einem nichts ein, weil man zu wenig Zeit und zu viel Rotz hat, kann man immer noch über Letzteren schreiben.
3. Meine Mama hat (meistens) Recht.
4. Es ist alles gut. Wirklich.

Rotzpumpe

Hollande und Höhlenbären

Da passiert auf unserem Hügel wochenlang nichts Aufregendes – und dann, vergangenen Samstag, muss ich mich zwischen zwei Highlights entscheiden. Das kam so:

In diesem Jahr fand das Jahrestreffen des örtlichen Speleologen-Vereins in unserer Küche statt. Speleo was? Höhlenforschung. (Spelunke, schummrige Kellerkneipe, ist mit dem Begriff verwandt). Speleologie ist in Frankreich ein verbreiteter Abenteuer-Sport und sogar ein Beruf für Hartgesottene, die davon leben, hunderte von Metern in kalte, nasse Gänge zu kriechen, Karten zu erstellen, Gesteinsproben zu sammeln oder Touristen die Freuden der Unterwelt nahe zu bringen. Die Pyrenäen sind durchlöchert wie der Brébis-Schafskäse, der hier gemacht wird, und damit ein einziger großer Speleo-Spielplatz.

Monsieur ist gleich nach unserer Ankunft Mitglied des Vereins geworden, um sich sonntags dem größten Vergnügen hinzugeben, das es für ihn auf Erden gibt: im reißfesten Overall, mit Helm und Stirnlampe irgendwelchen unterirdischen Flüssen zu folgen. Er kommt von solchen Expeditionen glücklich und unfassbar verdreckt zurück. Nun also wollten etwa 20 seiner Kollegen bei uns tagen, ihren vorsitzenden Höhlenbären, dessen Stellvertreter und den Schatzmeister in ihren Ämtern bestätigen. Monsieur und eine Höhlenbärin (ja, die gibt’s auch!) kochten zu diesem Anlass ein halbes Schwein auf Reis.

Ich wollte dabei sein, um Leute kennen zu lernen, ein bisschen französisch zu sprechen und dem Speleologen-Garn zu lauschen, das zu fortgeschrittener Stunde sicher reichlich gesponnen wurde: “Weißt du noch, damals, als wir 800 Meter tief im Berg fest saßen und das Wasser immer höher stieg…” (Monsieur hat so etwas tatsächlich schon erlebt. Ein Alptraum, jedenfalls für mich, die ich in Hamburg wartete und fast schon ein schwarzes Trauerkleid in den Koffer gepackt hätte. Aber das ist eine andere Geschichte).

Doch dann rief ein gewisses Nachrichtenmagazin aus Hamburg an, für das ich arbeite, wenn gerade kein Baby an meinem Busen hängt. Der Kollege  vom Auslandsressort entschuldigte sich 37 Mal für den Anruf (sonst sind die nie so zimperlich) und fragte, ob ich zu einem Artikel über François Hollande beitragen könne. Die Boulevard-Presse hat ja gerade einen gnadenlosen Scheinwerfer in die total unaufgeräumten Beziehungskisten des Präsidenten gehalten, und auch beruflich könnte es besser für ihn laufen. Ist also Stoff für den stern.

Am Samstag wurde Hollande in Tulle erwartet, etwa 350 Kilometer von hier. Dort begann seine politische Karriere einst als Bürgermeister. Hollande wollte da rund 1400 handverlesenen Bürgern persönlich ein schönes, neues Jahr wünschen (Diese voeux, die präsidialen Neujahrwünsche, haben Tradition in Frankreich). Ich fuhr also nach Tulle, ein hübsch langweiliges Städtchen, und trieb ich mich auf dem Markt und in den Cafés herum, um die Leute nach ihrem berühmtesten Mitbürger auszufragen (“Ah oui, der François ist ein guter Typ, so warmherzig! Seine Frauen? Naja, für Gefühle kann man ja nichts.”) Hollande ist beliebt in Tulle, was auch daran liegen mag, dass sich die Zuschüsse aus Paris für das Départment um ein Hundertfaches erhöht haben, seit er Präsident ist.

Am Nachmittag kam er dann in eine Mehrzweckhalle am Ortseingang und spulte 40 Minuten lang Phrasen ab. Es lebe die Republik! Es lebe Frankreich! Tätää, dann spielten sie die Marseillaise vom Band. Die internationale Journaille von BBC bis New York Times wartete vergebens auf ein Wörtchen zu der Frage “Valérie oder Julie?”. Hollande wirkte müde, verschlossen und so glatt wie seine an den Kopf geklebten Haare.

Ich fuhr etwas ratlos wieder nachhause. Bei der Lokalzeitung im Münsterland, wo ich ganz früher mal gearbeitet habe, hätten wir zu so einem Termin gesagt: Nullnummer, gab nix her. Wir drucken stattdessen den Text über das Ostereiermalen im Altenheim. Aber das kann ich beim stern nicht bringen, also ging’s nachhause und noch in der Nacht an den Schreibtisch, um  einige halbwegs sinnvolle Zeilen zu dichten (wovon die Redaktion am Ende wahrscheinlich 3,5 abdruckt). Egal – es hat trotzdem Spaß gemacht. Die Wachtelei-Häppchen, die nach Hollandes Rede herumgereicht wurden, waren köstlich. Aber beim nächsten Mal, Monsieur le Président, entscheide ich mich für die Höhlenbären!

Pressepass_Tulle2

 

Wonder Woman

Gestern Abend traf ich Wonder Woman. Sie saß in einem Blätterteigkuchen, einer galette des rois, den die Franzosen traditionell zum Dreikönigsfest am 6. Januar essen (oder auch noch etwas später). In den Kuchen wird eine Bohne oder eine kleine Figur eingebacken. Wer sie erwischt, ist König oder Königin und trägt für den Rest des Tages eine Pappkrone. Wir aßen den Königskuchen als Nachtisch bei Patrick und Sylvie (den Pantoffelmachern aus der Nachbarschaft, siehe Blog “Pantoffelzeit” vom 14. Oktober). Die beiden bewohnen über ihrem unordentlichen Atelier ein überraschend aufgeräumtes, gemütliches Chalet mit Bollerofen. Bébé kugelte auf dem Boden herum, Monsieur berichtete von seiner letzten Recherchereise. Unsere Gastgeber erzählten, dass sie einen Online-Handel mit ihren Fell-Waren aufziehen und ein modernes Atelier bauen wollen. Und ich? Stocherte im Kuchen und kam mir vor wie eine langweilige Hausfrau, die nicht weiter denken kann als bis zur nächsten Kochwäsche.

Dann biss ich auf etwas Kleines aus Plastik – Wonder Woman. Toller Busen, dachte ich, und lutschte sie vollends frei. Geballte Fäuste, sportliche Pose – ich wußte, diese Frau will mir was sagen. Und Wonder Woman sprach zu mir: Dies, liebe Helen, sind deine Neujahrsvorhaben…

1. Still dein Baby ab. Es reicht. Das mit dem tollen Busen hört dann zwar auf, aber dafür gewinnst du deine Freiheit zurück (naja, so frei wie man als Babymama halt sein kann). Was ist dagegen schon eine verlorene BH-Größe?!
2. Mut zum Joggen! Zwar wird dir aus jeder zweiten Einfahrt ein knurrender Hund hinterher rennen; während der Feiertage schnappte gar einer nach einem Familienmitglied. Du aber nimmst es französisch: Je m’en fous, mir doch sch… egal. All ihr Köter da draußen, die ihr so gefährlich tut: Nehmt euch in Acht! Die Superheldin ist los.
3. Superman hat seinen Laserblick und seinen unzerstörbaren Anzug. Ich, Wonder Woman, habe mein magisches Lasso. Es zwingt alle damit Eingefangenen, die Wahrheit zu sagen. Praktisches Accessoire für eine Journalistin. Ich leih dir das Teil. Benutze es reichlich und denk dran: Auch du solltest noch mehr die Klappe aufreißen und wahre Dinge aussprechen. Wir brauchen mehr Klartext auf dieser Welt.
4. Es ist egal, wo du bist und was du machst. Das Ungewöhnliche wartet überall. Und manchmal springen neue Ideen auch einfach aus einem Kuchen.

Wonder Woman

Die Ruhe nach dem Sturm

Feiertage mit der Familie drehen sich ja immer um die gleichen Dinge: Essen, reden, streiten, aufräumen. Zwischendurch Spaß haben. So war es dieses Jahr auch bei uns, allerdings potenziert mit dem Faktor 18: Wir waren 13 Erwachsene, 4 Kinder und 1 Bébé. Das Haus war voll bis unters Dach. Hier die Zusammenfassung.

Essen
Mein Mann ist nicht der ordentlichste und planvollste auf Erden, aber ein zehntägiges Gelage für 18 Leute zu managen war für ihn ein Leichtes. Schon Wochen vor Festbeginn verschickte er eine Excel-Tabelle an alle Teilnehmer mit Wochentagen, Zahl essender Erwachsener und essender Kinder (sie reisten nicht alle am selben Tag an und ab), Menüfolge, Küchenteams. Die festlichen Dîners beanspruchte Monsieur selbst zu kochen (und wehe, es versuchte jemand helfend einzugreifen, siehe Punkt “streiten”).

Reden
Die Franzosen sprachen perfekt französisch. Und sonst nichts. Was zu bewundernswerten Improvisationen auf deutscher Seite führte: Meine Mutter kramte ihr 40 Jahre altes Schulfranzösisch hervor und vermittelte den Rest mit kreativen Gesten und Gesichtsausdrücken. Mein Bruder und seine Frau sind italophil, leiteten die lateinischen Wurzeln aus dem Italienischen ab und sprachen das nasal und mit französischer Satzmelodie aus.  Am Ende konnten alle in beiden Sprachen “Prost”, “mehr”, “Rotwein” und “danke” sagen.

Streiten
Oh ja. Und zwar in den universellen Paarungen, die seit Anbeginn der Welt bestehen und  ewig bestehen werden: Ehemann mit Ehefrau (darüber, was Bébé wann essen und nicht essen soll), selbige Ehefrau in ihrer Rolle als Tochter mit ihrem Vater (über die Frage, ob man nachts um 3 noch den Küchenboden wischen muss), Eltern mit Sohn (über den Zeitpunkt, wann Letzterer seine Geige holen und vorzuspielen hat), Freundin mit Freund (über die angemessene Reaktion auf einen Beinahe-Hundebiss beim Joggen), Schwiegersohn mit Schwiegervater (darüber, ob man mit dem teuren Wein kochten sollte), Schwiegermutter mit Schwiegertochter (über grundsätzliche Fragen der Lebensführung).

Spaß haben
Wir sind Ski gelaufen und Schlitten gefahren. Wir haben eine gotische Kathedrale besucht, in der ein getrocknetes Krokodil an der Wand hängt (dankbare Gabe eines Pilgers im letzten Jahrhundert). Wir sind durch Wald und Felder spaziert, zu Achtzehnt. Ich habe vier Kinder geschminkt, als Zauberschmetterling mit Glitzer, Zauberschmetterling mit mehr Rosa, als Narbengesicht und als Obi-Wan Kenobi. An Silvester gab es eine nächtliche Schnitzeljagd (was jemand mit chasse à l’escalope übersetzte und prompt rückübersetzt wurde als “Wickelfleischjagd”). Zwei Teams (Altersgruppe 4 Jahre / Altersgruppe 7-8 Jahre) suchten Teile einer Schatzkarte, die im Briefkasten, hinter dem Holzstoß, in einem Autowrack am Feldrand und in einer Jägerhütte im Wald versteckt waren. Die Kleinen gruselten sich ordentlich und die jungen Onkels steigerten das noch, indem sie Geräusche von Pyrenäenbären, schnarchenden Riesen und Darth Vader machten. Der “Schatz” (Silvesterkracher, Papphütchen und kiloweise Süßes) wurde schließlich auf einem verlassenen Bauernhof im Plumpsklo gehoben.

Aufräumen
Es wird noch Wochen dauern, bis die Wäschegebirge abgetragen, alle Legosteine gefunden bzw. weggesaugt und die hier vergessenen Dinge ihren Besitzern zugeordnet und zugestellt sind. Was wir gefunden haben:

1 pinkfarbenes T-Shirt
1 khakifarbenes T-Shirt mit Kassettenrekorder-Motiv
1 weißes italienisches Herrenhemd
1 Daunenfederbett
1 einzelner grauer Strickhandschuh
1 Mädchen-Unterbüx mit Aufdruck: “Love & Play”
1 Lesebrille
1 Ray Ban Pilotenbrille
1 schwarze Baskenmütze
1 Paar rotweinrote Wollsocken
1 grüne XL-Tupperdose
3 Typen Erkältungsviren (Zahl geschätzt), von denen sich mindestens einer bei mir richtig breit gemacht hat, was wiederum das Aufräumen erschwert
25 Haargummis (Zahl geschätzt), in diversen Farben

Und jetzt? Haben wir den Post-Feiertagsblues: wir sind ein wenig deprimiert, ein wenig auf Familienentzug. Ein wenig bedauern wir, dass wir nicht noch dieses und jenes zu diesem und jenem gesagt haben. Wir sind ein wenig glücklich, dass es vorbei ist. Und ein wenig mehr glücklich, dass es passiert ist.