Monthly Archives: February 2014

Lies mal, wer hier spricht

Jetzt will ich euch auch mal was erzählen. Ich bin der, der in diesem Blog immer nur Bébé genannt wird. Dabei habe ich einen Namen! Mama und Papa sagen ihn auf tausend verschiedene Arten, wenn ich etwas gut gemacht habe, oder wenn ich dieses tun und jenes lassen soll. Ich blicke da nicht durch. Egal, man soll die Großen nicht allzu ernst nehmen. Also, was ich erzählen wollte:

Wir sind bei blauen Omis zu Besuch. Ich schlafe in einer Kapelle. Und fahre jeden Tag Trecker! Aber der Reihe nach: Mein Papa hat eine Tante, die Thérèse heißt. Sie hat viele Lachfalten um die Augen und einen Eckzahn aus echtem Gold. Thérèse und ihre Freundin Pia sind Nonnen. Sehr besondere Nonnen: Die sitzen nicht den ganzen Tag herum und beten, sondern leben mit armen Leuten, mit Kranken, Migranten oder anderen Menschen zusammen, die’s nicht so leicht haben im Leben (Mama hat schon mal davon berichtet, die Geschichte heißt “Schwesterherzen” vom 7. November 2013).

Thérèse und Pia reisen seit 40 Jahren mit Zigeunern durch Europa (sie nennen sie gens du voyage, fahrendes Volk. Das klingt viel feiner, finde ich). Bei Nonnen wie diesen Beiden ist es so, dass sie die Leute nicht davon überzeugen wollen, auch Christen zu werden. Sie wollen denen gar nichts beibringen, sondern einfach da sein, helfen, wenn es nötig ist und Freunde sein. Ich glaube, dass Thérèse und Pia das super können. Die lachen nämlich dauernd.

Den Winter verbringen Thérèse und Pia in einem Dorf in der Provence. Und da sind wir gerade! Hier haben sie zusammen mit anderen Nonnen ein großes Haus mit Garten und ein Klo, das auch im Garten ist. Es ist ein Steh-Klo. Thérèse und Pia schlafen aber nicht im Haus, sondern wie immer in ihrem Wohnwagen (Thérèse) und im Kleinbus (Pia), der den Wohnwagen zieht, wenn sie unterwegs sind.

Auf der Wäscheleine hängen blaue Röcke und blaue Pullis und blaue Kopftücher (und auch Papas Unterhosen, die gewaschen wurden und nicht alle blau sind, aber das ist jetzt nicht so wichtig). Also, alle Nonnen sind blau angezogen. Wie die Schlümpfe! Aber wenn man genau hinguckt, sieht man, dass es in Wahrheit viele verschiedene Blaus sind (oder heißt es “Blaue”? Mama wüsste das jetzt). Da ist eine Bluse so blau wie Mamas Niveau-Dose. Ein Rock so dunkel wie Papas Jeans. Und dann gibt es alle Schattierungen von himmelblau: hellblau wie kurz nach einem Regenguss, azur wie der Sommerhimmel zuhause in den Pyrenäen, lila-blau wie vor einem Gewitter. In meinem Alter liegt ja man viel auf dem Rücken und guckt nach oben. Mit Himmelfarben kenn’ ich mich echt aus.

Mama, Papa und ich wohnen in einem alten Zirkus-Wagen. Pia erzählt, dass sie vor vielen Jahren damit als Novizin unterwegs war (so heißen Azubi-Nonnen). Ich mag den Zirkuswagen, weil da drinnen alles klein ist. Vorn gibt es eine Kapelle, vielleicht zwei Quadratmeter groß. Da passt mein Reisebett rein und sonst nicht viel. Nur ein fettes, aufgeschlagenes Buch, eine Kerze und ein kleines Baby aus Ton, das Jesus heißt. Hallo, Jesus.

Im Zirkuswagen gibt es kein Wasser aus der Leitung, sondern aus einer Kanne. Eiskalt, direkt aus dem Brunnen. Ich sag’ euch, Windelnwechseln mit kaltem Waschlappen, das ist nichts für schwache Nerven.

Meine Uroma ist auch hier. Sie wohnt eigentlich woanders in Frankreich, aber jedes Jahr macht sie ein paar Wochen Ferien bei Thérèse, die ihre Tochter ist. Meine Uroma ist 91 Jahre alt. Ich bin fast 9 Monate alt. Wir haben also beide eine 9 als Alter, und genau wie ich kann sie nicht richtig laufen und hat ganz weiche Haare. Wenn ich ihr die Brille von der Nase pflücke, lächelt sie. Am meisten spiele ich mit Pia. Die ist erst 81. Sie fährt mit mir Trecker, das könnt ihr auf dem Foto unten sehen. Wir drehen viele Runden durch den Garten und lachen uns kaputt. Pia ist ‘ne Granate. Fast hätte sie mir ein Stück Blaubeerkeks gegeben. Das hat Papa leider im letzten Moment verhindert und behauptet, Mama wolle nicht, dass ich Zucker esse oder so. Da fühlte sich Mama als preußische Spielverderberin hingestellt und war wütend auf Papa. Meine Güte, es war doch nur ein Keks! Die haben vielleicht Sorgen.

Und dann passierte noch was Aufregendes: Hier ist eine schwarze Nonne. Also, sie ist auch blau wie die anderen, aber ihre Haut ist schwarz. Sowas hatte ich noch nie aus der Nähe gesehen. Sie kommt aus Ruanda. Ruanda, Ruanda! Wie schön das Wort über die Zunge rollt, von vorne nach hinten. Ich rufe es laut und gestikuliere dazu. “Oh, er hat baba gesagt”, meint Mama. Sie muss taub sein, denn ich habe eindeutig Ruanda gesagt. Mit den Großen muss man phonetisch überkorrekt sprechen, sonst begreifen sie’s nicht. Jedenfalls nahm mich die schwarze Nonne auf den Arm und ich habe sie ins Ohr gezwickt, um herauszufinden, ob sich ein schwarzes Ohr anders anfühlt als ein rosafarbenes. Tut es nicht. Ohr ist Ohr. Mensch ist Mensch. Ist doch ganz einfach! Das sagen Thérèse und Pia auch immer.

So, das war’s von mir. Tschüss, euer Bébé.

Foto 5

Foto 3

Guckt mal, dieses Foto (unten) wollte ich euch auch noch zeigen: Da sitzt vor dem Zirkuswagen links Thérèse als junge Nonne. Der kleine Typ auf ihrem Schoß ist mein Papa. Daneben sitzt seine Mama (meine Oma und Thérèses Schwester) mit meinem Onkel J. Er muss seitdem viele Blaubeerkekse und andere Sachen gegessen haben, denn heute ist er fast zwei Meter groß und sehr stark.

Foto 2

Urgeschichte im Rohbau

Nachdem ich den Kinderwagen tagelang allein durch den winterschlafenden Ort geschoben habe, jeden Tag mit Bébé zwischen alten Männern im einzigen geöffneten Café saß (immerhin steigere ich mich von 0 Cafés – zuhause in den Pyrenäen – auf 1 Café); da passiert jetzt endlich wieder was!

Wir besuchen eine außergewöhnliche Baustelle; mein Fotograf hat den Termin angeleiert. Man sieht den monumentalen, sichelförmigen Rohbau schon aus großer Entfernung, ein Mix aus Stonehenge und Riesen-Ufo. Auf einem von dichtem Eichenwald bewachsenen Hochplateau entsteht eine exakte Kopie der Grotte Chauvet, einer Höhle ganz in der Nähe. Sie birgt die ältesten Felsmalereien der Welt. Vor 35 000 Jahren hat Homo sapiens dort zu Kohle und Ocker gegriffen und die Wände mit Löwen, Mammuts, Wollnashörnern und Wildpferden bemalt. Perfekt lebensecht, vom Balztanz der Löwen bis zu den Barthaaren der Höhlenbären. Die Künstler (wahrscheinlich waren es mehrere, denn man erkennt verschiedene Stile) nutzten das Relief der Felsen, um die Tiere plastisch erscheinen zu lassen. Perspektive, Hintergrund, gemalte Bewegung: Es ist alles da. Die Bilder sind der Beginn aller Kunst.

Nur eine Handvoll Wissenschaftler darf die Höhle für wenige Stunden pro Jahr betreten. Und deshalb wird nun ein Faksimile für Touristen gebaut, werden 8000 Quadratmeter Originalhöhle auf 3000 Quadratmeter verdichtet. Plus einem Museum für Vorgeschichte, ein Tagungszentrum, Arbeitsräume für Schulklassen, Restaurants. Der Presse-Mann führt uns herum. Bébé darf nicht mit, weil sie keine Helme für Babys haben. Er schläft aber zum Glück vor einem Baucontainer in der glasklaren Luft, dick verpackt in seinen Skianzug. Verdreckte Arbeiter stiefeln vorbei (die meisten sind billige Kräfte aus dem nahen Spanien) und lächeln in den Kinderwagen.

Wir sind beeindruckt von dem Aufwand, der hier getrieben wird: Geologen haben etwa 50 verschiedene Oberflächen der Höhlenwände identifiziert; ein Team aus Bildhauern und Künstlern ahmt jede Rille, jede Verfärbung originalgetreu nach. Die Malereien selber entstehen in Ateliers in Paris und Toulouse (ah, Toulouse! Nicht weit weg von zuhause. Klar, dass wir da demnächst auch hin müssen). Die Schauhöhle wird wie das Original 7 Grad kalt sein, dieselbe Luftfeuchtigkeit und dieselben Gerüche haben. Der Besucher wird über schmale Stege über den nachgebauten Höhlenboden laufen, er wird Schädel und Knochen der Höhlenbären sehen, die vor Jahrtausenden im Winterschlaf verendet sind. Selbst die Rentierknochen, die die prähistorischen Künstler während des Malens abnagten, werden rekonstruiert. Eröffnung ist im Frühjahr 2015.

Den Rest des Tages können wir uns nicht wieder einkriegen darüber, dass da jemand in verschlüsselten Bildern zu uns spricht, direkt aus der Vorzeit. Jemand wie wir, Homo sapiens, der uns genetisch, kognitiv und psychisch gleicht.

Wir reden wir uns die Köpfe heiß über den Stand der archäologischen Forschung und die vielen ungeklärten Fragen: Die Menschen malten beim Schein einer Fackel in den tiefsten Winkeln der Höhle. Warum nicht weiter vorn im Halbdunkel? Die Malereien zeigen ausschließlich große Säugetiere, die nicht gejagt wurden. Schamanismus oder Zufall? Warum gibt es keine Alltagsszenen, keine Darstellung von Jagdtieren, die doch lebenswichtig waren? Ist die Hand, deren Abdruck an der Wand erhalten ist und die einem mindestens 1,85 Meter großen Menschen gehörte, ist das die Hand, die die Wunderwerke schuf? Ansonsten ist nur ein einziges menschliches Abbild in der Grotte Chauvet erhalten: ein weiblicher Unterleib, in den ein massiges Bison eindringen will. Das ewige Thema also. Und die größte aller Fragen: Warum haben die Menschen gemalt? Was bedeutete es damals, und was bedeutet es für uns heute?

Da die Sonne knallt und wir gerade so schön in Fahrt sind, beschließen wir, den Eingang der Original-Höhle zu suchen. Der Ort ist nicht ausgeschildert und steht in keiner Karte, aber der Weg dorthin ist auch kein Geheimnis. Eine Geo-Chemikerin des zukünftigen Museums, die ich in einer Ausstellung über Chauvet kennengelernt habe, erklärt ihn uns.

An einer trockengefallenen Flussschleife der Ardèche, nah an der Felsbrücke Pont d’Arc, gehen wir an Weinstöcken entlang den Hang hinauf. Das Baby sitzt in seiner geliebten Kiepe und grabscht nach tiefhängenden Zweigen, die über unsere Köpfe hinweg streichen. Es geht steil bergan und ein bisschen durch die Irre, aber dann queren wir eine natürliche Galerie im Fels, die auch die Frühmenschen benutzt haben. Schon sieht man armdicke Stromkabel in den Bäumen hängen, die zu den Überwachungskameras und der per Zahlencode gesicherten Panzertür am Eingang führen. Der Bereich wirkt in der wilden Landschaft seltsam fremd: So stelle ich mir den Zugang zu einem Gold-Depot in den Schweizer Alpen vor, oder zur Cheops-Pyramide. Wir überlegen, ob wir auf gut Glück ein paar Codes eintippen sollen, das Datum der Entdeckung der Höhle (18.12.1994) oder vielleicht unseren Hochzeitstag (04.08.2012)…?

Wir lassen es bleiben. Fühlen uns aber trotzdem so aufgeregt und inspiriert, als hätten wir die Tür zu etwas Unglaublichem aufgestoßen.

Chauvet Baustelle

Pont d'Arc

Chavet Eingang

* Damien legt bei diesen Bildern besonderen Wert auf sein Copyright, weil er sie verkaufen will, und hat deshalb ein Wasserzeichen eingefügt.

Sonntag am Fluss

Wir sind drei Wochen unterwegs. Monsieur fotografiert Höhlen für einen Reiseführer. Zuerst im Flusstal der Ardèche, danach in der Provence und schließlich werden wir noch nach Monaco fahren (Höhlen in Monaco? Man erlebt doch seltsame Dinge mit einem Grottenolm als Ehemann).*

Erstes Camp der Reise ist Vallon Pont d’Arc, Hauptstädtchen aller Ardèche-Touristen. Der Fluss zieht hier malerische Schleifen durch einen Canyon aus Kalkstein und hat mit  gigantisch viel Zeit einen ebenso gigantischen Felsbogen ausgewaschen, durch den tiefgrünes Wasser strudelt: der Pont d’Arc ist eine von Frankreichs großen Landmarken und in jedem Französisch-Schulbuch abgebildet.

Im Sommer läuft der Fluss fast über vor Touristen in ihren Kajaks, doch jetzt haben wir ihn, seine sandigen Uferstrände und den Pont d’Arc ganz für uns allein. Bébé, endlich des Sitzens fähig, muss nicht mehr wie ein schlappes Kartoffelsäckchen vorn getragen werden, sondern reist wie eine vollwertige Person, mit Überblick und Beinfreiheit: auf Papas Rücken in der Kiepe. Die Beförderung gefällt offenbar; Bébé findet uns, den Fluss, den Spaziergang, einfach alles irre witzig. Aber was heißt hier Spaziergang!

Mit Bébés Vater draußen unterwegs zu sein ist niemals nur ein Spaziergang. Auch diesmal nicht. Es wird eine handfeste Wanderung entlang der Steilhänge, durch Eichenwälder und viel, viel Matsch. Mal klettern wir wie Zwerge durch haushohe Felsbrocken, mal geht es  leicht über perfekte Sandstrände. Schon beginnt Monsieur zu fantasieren: Jetzt ein Zelt, ein Gaskocher und eine leckere Tüte Fertignudeln; die Guards vom Naturpark würden uns gar nicht bemerken…

Den Rückweg kreuzt ein nicht gerade sanfter Wasserfall. Augen auf und durch! Das Baby juchzt vor Vergnügen über den eiskalten Schwall, der auf das Kiependach nieder rauscht. Wir Großen werden pladdernass. Ab nachhause. Wir haben eine Ein-Zimmer-Ferienwohnung gemietet, simpelst ausgestattet mit Blechbesteck und Omas angeschlagenem Porzellan mit Goldrand. Das heiße Duschwasser würde für zwei kurzhaarige Grottenolme reichen; Menschen wie ich jedoch, mit langem Haar und Haarwäschewunsch, müssen am Ende ganz fest an Doktor Kneipp denken und wie gesund doch kalte Güsse sind… Bébé nimmt mangels anderer Behältnisse ein Schaumbad in der Küchenspüle.

Und wie wir so am Abend zusammen sind, Heizung aufgedreht, und im selben Zimmer kochen, spielen, arbeiten und schlafen, ist es doch ein wenig wie Zelten.

* wen die Arbeit eines Höhlenfotografen interessiert, sollte diesen Blog verfolgen:
La France vue des Grottes (Texte auf Französisch).

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Ernest badet im Spülbecken