Urgeschichte im Rohbau

Nachdem ich den Kinderwagen tagelang allein durch den winterschlafenden Ort geschoben habe, jeden Tag mit Bébé zwischen alten Männern im einzigen geöffneten Café saß (immerhin steigere ich mich von 0 Cafés – zuhause in den Pyrenäen – auf 1 Café); da passiert jetzt endlich wieder was!

Wir besuchen eine außergewöhnliche Baustelle; mein Fotograf hat den Termin angeleiert. Man sieht den monumentalen, sichelförmigen Rohbau schon aus großer Entfernung, ein Mix aus Stonehenge und Riesen-Ufo. Auf einem von dichtem Eichenwald bewachsenen Hochplateau entsteht eine exakte Kopie der Grotte Chauvet, einer Höhle ganz in der Nähe. Sie birgt die ältesten Felsmalereien der Welt. Vor 35 000 Jahren hat Homo sapiens dort zu Kohle und Ocker gegriffen und die Wände mit Löwen, Mammuts, Wollnashörnern und Wildpferden bemalt. Perfekt lebensecht, vom Balztanz der Löwen bis zu den Barthaaren der Höhlenbären. Die Künstler (wahrscheinlich waren es mehrere, denn man erkennt verschiedene Stile) nutzten das Relief der Felsen, um die Tiere plastisch erscheinen zu lassen. Perspektive, Hintergrund, gemalte Bewegung: Es ist alles da. Die Bilder sind der Beginn aller Kunst.

Nur eine Handvoll Wissenschaftler darf die Höhle für wenige Stunden pro Jahr betreten. Und deshalb wird nun ein Faksimile für Touristen gebaut, werden 8000 Quadratmeter Originalhöhle auf 3000 Quadratmeter verdichtet. Plus einem Museum für Vorgeschichte, ein Tagungszentrum, Arbeitsräume für Schulklassen, Restaurants. Der Presse-Mann führt uns herum. Bébé darf nicht mit, weil sie keine Helme für Babys haben. Er schläft aber zum Glück vor einem Baucontainer in der glasklaren Luft, dick verpackt in seinen Skianzug. Verdreckte Arbeiter stiefeln vorbei (die meisten sind billige Kräfte aus dem nahen Spanien) und lächeln in den Kinderwagen.

Wir sind beeindruckt von dem Aufwand, der hier getrieben wird: Geologen haben etwa 50 verschiedene Oberflächen der Höhlenwände identifiziert; ein Team aus Bildhauern und Künstlern ahmt jede Rille, jede Verfärbung originalgetreu nach. Die Malereien selber entstehen in Ateliers in Paris und Toulouse (ah, Toulouse! Nicht weit weg von zuhause. Klar, dass wir da demnächst auch hin müssen). Die Schauhöhle wird wie das Original 7 Grad kalt sein, dieselbe Luftfeuchtigkeit und dieselben Gerüche haben. Der Besucher wird über schmale Stege über den nachgebauten Höhlenboden laufen, er wird Schädel und Knochen der Höhlenbären sehen, die vor Jahrtausenden im Winterschlaf verendet sind. Selbst die Rentierknochen, die die prähistorischen Künstler während des Malens abnagten, werden rekonstruiert. Eröffnung ist im Frühjahr 2015.

Den Rest des Tages können wir uns nicht wieder einkriegen darüber, dass da jemand in verschlüsselten Bildern zu uns spricht, direkt aus der Vorzeit. Jemand wie wir, Homo sapiens, der uns genetisch, kognitiv und psychisch gleicht.

Wir reden wir uns die Köpfe heiß über den Stand der archäologischen Forschung und die vielen ungeklärten Fragen: Die Menschen malten beim Schein einer Fackel in den tiefsten Winkeln der Höhle. Warum nicht weiter vorn im Halbdunkel? Die Malereien zeigen ausschließlich große Säugetiere, die nicht gejagt wurden. Schamanismus oder Zufall? Warum gibt es keine Alltagsszenen, keine Darstellung von Jagdtieren, die doch lebenswichtig waren? Ist die Hand, deren Abdruck an der Wand erhalten ist und die einem mindestens 1,85 Meter großen Menschen gehörte, ist das die Hand, die die Wunderwerke schuf? Ansonsten ist nur ein einziges menschliches Abbild in der Grotte Chauvet erhalten: ein weiblicher Unterleib, in den ein massiges Bison eindringen will. Das ewige Thema also. Und die größte aller Fragen: Warum haben die Menschen gemalt? Was bedeutete es damals, und was bedeutet es für uns heute?

Da die Sonne knallt und wir gerade so schön in Fahrt sind, beschließen wir, den Eingang der Original-Höhle zu suchen. Der Ort ist nicht ausgeschildert und steht in keiner Karte, aber der Weg dorthin ist auch kein Geheimnis. Eine Geo-Chemikerin des zukünftigen Museums, die ich in einer Ausstellung über Chauvet kennengelernt habe, erklärt ihn uns.

An einer trockengefallenen Flussschleife der Ardèche, nah an der Felsbrücke Pont d’Arc, gehen wir an Weinstöcken entlang den Hang hinauf. Das Baby sitzt in seiner geliebten Kiepe und grabscht nach tiefhängenden Zweigen, die über unsere Köpfe hinweg streichen. Es geht steil bergan und ein bisschen durch die Irre, aber dann queren wir eine natürliche Galerie im Fels, die auch die Frühmenschen benutzt haben. Schon sieht man armdicke Stromkabel in den Bäumen hängen, die zu den Überwachungskameras und der per Zahlencode gesicherten Panzertür am Eingang führen. Der Bereich wirkt in der wilden Landschaft seltsam fremd: So stelle ich mir den Zugang zu einem Gold-Depot in den Schweizer Alpen vor, oder zur Cheops-Pyramide. Wir überlegen, ob wir auf gut Glück ein paar Codes eintippen sollen, das Datum der Entdeckung der Höhle (18.12.1994) oder vielleicht unseren Hochzeitstag (04.08.2012)…?

Wir lassen es bleiben. Fühlen uns aber trotzdem so aufgeregt und inspiriert, als hätten wir die Tür zu etwas Unglaublichem aufgestoßen.

Chauvet Baustelle

Pont d'Arc

Chavet Eingang

* Damien legt bei diesen Bildern besonderen Wert auf sein Copyright, weil er sie verkaufen will, und hat deshalb ein Wasserzeichen eingefügt.

2 thoughts on “Urgeschichte im Rohbau

  1. Wir wollen bei der höhlen Eröffnung gern dabei sein !,, Termin?
    Tolle Bilder und ein zufriedener bebe. Alles gute Euch ! Macht so weiter .
    Grüße aus Münster.

  2. Hi Helen,
    so geht das:
    vor einem Jahr: Bebè im Bauch
    bis vor ein paar Wochen Bebè vor dem Bauch
    und nun umgezogen nach hinten in die Kiepe.
    Bebè wird groß. Bald läuft er selber 😉
    Die Kalkfelsenlandschaft erinnert mich sehr an die Haute Provence.
    Ardeche wäre eine echte Alternative für den nächsten Uraub.
    Sei herzlich gegrüßt und hab ganz herzlichen Dank für deine wundervollen Berichte und Dank an Damien für die Ein-Durch und Ausblicke

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