Schwesterherzen

Unseren Hügel herauf kommen zwei Nonnen in blauer Tracht. Die eine, Thérèse, 66 Jahre, geht in ihren Flip-Flops wie eine junge Frau. Die andere, Pia, steigt bedächtig an. Sie wird bald 80.

Thérèse ist die Tante meines Mannes und das wohl schillerndste Mitglied in dieser nicht ganz langweiligen Familie. Sie wusste als junge Frau nicht wohin mit ihrer Energie, der Abenteuerlust, dem nicht zu bändigenden Verlangen, auszubrechen und die Welt zu sehen. Auf alten Fotos sehe ich ein schlankes, starkes Mädchen mit grazilen Händen und einem schweren schwarzen Zopf, der ihr bis zur Taille reicht. Sie hatte damals schon diesen glasklaren Blick, der fast ein bisschen zu intensiv ist. Hungrig. Wer so schaut, wird Revolutionär, Partisanenkämpfer, Dichterin. Thérèse wurde Nonne. Sie trat mit Anfang 20 den “Petites Soeurs de Foucauld” bei, den kleinen Schwestern des Foucauld. Ein paar Worte zu diesem Tausendsassa:

Charles Eugène Baron von Foucauld (1858-1916) war Offizier der französischen Armee, Forschungsreisender, Kenner des Islam und des Judentums. Er durchquerte die Sahara zu Fuß und schrieb ein Wörterbuch der Sprache der Tuareg; seine Sammlung traditioneller Fabeln und Gedichte der Sahara-Nomanden gilt heute noch als Standardwerk. Inspiriert von der tiefen Gläubigkeit der Muslime suchte Foucauld nach dem christlichen Gott, zog als Eremit in die Nähe von Nazareth, wurde dann katholischer Priester und saß fortan schreibend und meditierend auf einem 2700 Meter hohen Berg in Algerien, damals französische Kolonie. Während des Ersten Weltkriegs wurde er von Tuareg erschossen, die ihn der Spionage verdächtigten. So gehen die Lebensgeschichten von Heiligen (selig ist er bereits).

Es gibt eine Hand voll Ordensgemeinschaften, die sich auf Foucauld beziehen, so auch die der jungen Französin Magdeleine Hutin, die Anfang der 1930er Jahre in Algerien eigentlich nur ihre Tuberkulose kurieren wollte, dann aber blieb, um mit verarmten Nomaden durchs Land zu reisen. Hutin gründete 1939 die “Kleinen Schwestern”, dessen wichtigste Ordensregel es ist, mit den Menschen am Rande der Gesellschaft zu leben. Mit Fabrikarbeiterinnen, Flüchtlingen, fahrendem Volk, mit den Armen. Es sind Nonnen, die zupacken. Deshalb tragen sie blau, blau wie die Kluft der Arbeiter. Heute gibt es weltweit etwa 2000 Kleine Schwestern.

Thérèse und Pia reisen seit 40 Jahren mit einigen Dutzend Roma-Familien durch Frankreich, gelegentlich auch durch Europa. Sie machen die Arbeit, die die Roma machen: Wein und Äpfel ernten, Körbe flechten, Handlanger-Jobs beim Zirkus. Es gibt in Frankreich ein Gesetz, nach dem jede größere Gemeinde einen Lagerplatz für Roma und “gens de voyage” (fahrendes Volk) zur Verfügung stellen muss. Doch oft wird diese Regelung nicht eingehalten. Spätestens seit Sarkozy ist es populär, gegen die Roma zu hetzen. Ihre Plätze sind häufig verschlossen, verdreckt oder so schwer zugänglich, dass sie mit ihren Lastern nicht hinkommen. Dann vermitteln Thérèse und Pia. Eine Nonne schmeißt auch der rechtsextremste Dorfbürgermeister nicht einfach so raus.

Sie wollten ein spirituelles, geistig reiches Leben führen, erzählen sie. Aber dabei nicht betend in einem langweiligen Kloster hocken, fern von der Welt und dem wahren Leben. Ihr Zuhause ist ein Kleinbus mit Wohnwagen. Thérèse wohnt im Wohnwagen, Pia im Bus; Thérèse fährt das Gespann, Pia liest die Karte. Strom kommt aus einer Solarzelle oder per Landkabel, Wasser holen sie in alten Milchkannen. Thérèse hat aus einer Pool-Telestange eine Fernsehantenne gebaut, die sie während der Fahrt einziehen kann. Ihr Bett ist nicht breiter als 50 Zentimeter und nur fast so lang wie sie selbst, um Platz für die Kapelle und den Vogelkäfig mit ihren zwei Tauben zu lassen. Den Blackberry teilen sie sich.

Die Beiden verbringen zwei Tage mit uns, langen beim Essen kräftig zu, unterhalten Bébé, so dass er vor Vergnügen quietscht. Sie schenken uns Wein, dessen Trauben sie selbst geerntet haben. Zwei Brüder von Pia laden uns auf ihre Landsitze ein (dazu später mehr). Jedes Mal, wenn wir weiterfahren, muss ich zum Auto sprinten, damit Pia nicht auf dem Notsitz im Kofferraum Platz nimmt. Eine Achtzigjährige im Kofferraum, das kann ich nicht zulassen und zwänge ich mich vor ihr rein. Pia protestiert. Das einfache Reisen sei ihr das bequemste.

Sie erstaunen mich, diese beiden Frauen: Frisch sind sie, braun vom Leben draußen, geistig voll auf der Höhe, oft zum Schreien lustig. Sie sind weit weniger aufopferungsvoll als ich es von einer Nonne erwartet habe. Demütig? Keine Spur. Es sind stolze Frauen, zuweilen dickköpfig (Pia über Thérèse) und herrisch (Thérèse über Pia). Ja, sie leben genau das Leben, das sie immer wollten; können Abenteuerinnen, Diplomatinnen, Geburtshelferinnen, Lehrerinnen, Bäuerinnen und Reisende zugleich sein. Das Ganze in einem gesellschaftlich anerkannten Rahmen. Was für ein eleganter Weg! Vielleicht war es Mitte der 1960er Jahre, als sie einander kennenlernten, auch die einzige Möglichkeit für zwei Frauen, in Ruhe miteinander zu leben? Thérèse, älteste Tochter von Kleinbauern aus der Normandie. Und Pia, aus adliger, hochgebildeter Familie in Südfrankreich. Ich habe noch viele Fragen an die Beiden. Man muss ein Buch über sie schreiben.

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3 thoughts on “Schwesterherzen

  1. Bon Jour Du schöne Terese,
    Dein Leben möchte So mancher Weltenbummler leben, aber.. nicht mit der Konsequenz und der Menschenliebe. Damit sind die meisten überfordert. Zugleich seid Ihr, Pia und Du, auch Monteurinnen, Chaufeusen, Einparkerinnen, Köchinnen u.v.m.
    Wer Dir in die Augen gesehen hat und Dich erlebt hat, weiß, wie gut Helen beobachtet hat. Sie ist eben eine begnadete Beobachterin.

  2. Vielen Dank, liebe Helen!!!!!
    Welch eine großartige Geschichte! Und welch großartige Frauen. Mit dieser Geschichte hast du mich gerade zutiefst glücklich gemacht.
    Hurra! Es gibt sie also doch und immer noch, echte Abenteurerinnen und handfeste Menschenliebe! Merci Pia et Terese!
    Que Dieu vous protège.

  3. Unbedingt! Ich würde das Buch über die beiden sofort lesen.
    Einen lieben Gruß aus der Heimat, wo ich mich vom alltäglichen Wahnsinn gerne immer wieder zwischendurch von Deinem Blog ablenken lasse – und Fernweh bekomme.

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