In der Höhle des Monsieur Gilbert

Gilbert Pémandrant ist 79 Jahre alt und geht immer noch jeden Tag zur Arbeit. Sein Arbeitsplatz ist konstant 13 Grad kühl, stockdunkel und ein wenig feucht. Monsieur Gilbert besitzt eine Höhle, die Grotte de Bernifal. Wir fahren hin, es ist die letzte im Périgord und überhaupt eine der letzten Etappen auf der langen Liste unterirdischer Sehenswürdigkeiten, die mein Mann in ganz Frankreich fotografiert.

Wir müssen drei Mal umkehren und zwei Mal nachfragen, um die Höhle zu finden. Denn Monsieur Gilbert führt zwar gerne Touristen (und die Presse) hinein, er will es den Leuten  aber offenbar nicht zu einfach machen. Mir scheint, als hätte er mindestens jeden zweiten Wegweiser abmontiert. Die Bernifal muss man sich verdienen, soll das wohl heißen.

Wir lassen das Auto auf einem kleinen Schotterplatz stehen, der Fotograf schleppt schwer an seiner Fotoausrüstung und ich hopple mit Bébés Kinderwagen voraus in den Wald. Endlich kühl! Es ist später Nachmittag und die Sonne schickt hellgrünes Licht durch die Laubbäume. Der Pfad geht steil bergan, das Kind wird gerüttelt und gestoßen (es kennt das schon und bleibt cool). Oben erwartet uns Monsieur Gilbert: gebeugt, mit hellwachen Augen. Er sagt Bonjour und lächelt nicht. Eine Sicherheitsnadel am Kragen seines alten Strickpullis verhindert, dass dieser sich gänzlich auflöst.

Bébé wird in lange Hosen, Socken, Fleecejacke und Mütze gesteckt und schaut uns an, als würde er sagen: Leute, es sind 30 Grad! Aber bei euch wundert mich ja gar nichts mehr… Auch wir packen uns warm ein. Dann sperrt Monsieur Gilbert eine dunkelgrüne Eisentür auf, die in den Fels eingelassen ist und schaltet eine rostige Glühlampe an. Das Kabel verschwindet in einer Tasche, die ihm über der Schulter baumelt. Was ist da drin? “Rasenmäher-Batterie”, grummelt er mit seinem südfranzösischen Akzent, “wiegt ein paar Kilo, bewährt sich aber seit Jahrzehnten.”

Drinnen dann – eine zauberhafte Welt. Monsieur Gilbert lässt die Stille und die Finsternis wirken, erst dann beginnt er die Tour. Seine Stimme hallt tief im Berg nach. Die Grotte de Bernifal wurde 1902 auf dem Land seiner Familie entdeckt, sie ist sein Eigentum. Die Bilder und Gravuren darin haben Menschen der Magdalénien-Kultur am Ende der letzten Eiszeit geschaffen, vor 15 000 Jahren. Die Werke sind so bedeutsam, dass sie staatlich geschützt sind und zum UNESCO-Weltkulturerbe zählen. Doch wie Monsieur Gilbert diesen Schatz präsentiert, das überlässt man ihm allein. Und das wiederum ist unfassbar großes Glück.

Denn diese Höhle ist kein Museum. Es gibt keinen Strom, keine Laufstege, keine Erklärtafeln, kein Panzerglas, keine Absperrung und keinen Shop. Monsieur Gilbert hat noch nicht mal eine Bank aufgestellt und noch nie im Leben eine Postkarte verkauft. Nein, seine Höhle soll ein Stück unmittelbarer Urzeitkultur bleiben, nahezu so, wie die Menschen der rätselhaften, westeuropäischen Zivilisation des Magdalénien sie verlassen haben. Warum malten sie Mammuts, Bisons und Wildpferde auf den Fels? Warum nahmen sie die Mühe auf sich, im flackernden Licht einer Öllampe einen Höhlenbären aus dem Stein zu schlagen? Und wer war die Frau, deren Gesicht uns von der Wand anschaut, so als trennten uns nicht Jahrtausende, sondern nur ein Wimpernschlag? Dieses Porträt ist, soweit wir wissen, das einzige Bild eines menschlichen Antlitzes der Epoche. Ich kann die Augen nicht davon lassen.

Wir gehen mit tastenden Schritten immer tiefer in die Gänge und Galerien hinein, schauen und staunen. Der Fotograf darf seine Blitzgeräte hinstellen, wo er will, und Bébé, der sich vor Neugier windet, kriecht auf dem feuchten Höhlenboden spazieren. Doch dann erlaubt sich Monsieur Gilbert den Scherz, seine Lampe auszuschalten, als das Kind, mehrere Meter von uns entfernt, gerade einen Stalagmiten befühlen will. Et alors, ruft er ins Dunkle, was machst du jetzt, kleiner Wicht? Dem kleinen Wicht wird angst und bang, er kreischt und will SOFORT aus der Höhle raus. Damit ist die Führung für mich beendet.

Draussen empfängt uns die warme Sommerluft wie ein lange vermisster Freund. Bébé und ich picknicken im Abendlicht, dann räumt das Kind ein bisschen im Wald auf (trockene Blätter, Ästchen und Steine werden von hier nach dort transportiert). Zwei Stunden warten wir so auf unseren Fotografen, dann treten er und Monsieur Gilbert aus der Eisentür, vertieft in ein Fachgespräch über Kalkablagerungen auf Höhlenkunstwerken, Fragen der Konservierung und angemessene Eintrittspreise (Monsieur Gilbert nimmt 7 Euro für den Besuch seiner magischen Zeitkapsel, inklusive Führung).

Wir mögen uns nicht trennen. Wir nicht von Monsieur Gilbert und er, so scheint es, auch nicht von uns. Er lebt allein, zuhause warten nur ein paar Kühe auf ihn. Heute sei sein Geburtstag, sagt er. Bébé zwickt ihm ganz herzlich in die Nase. Da lächelt er zum ersten Mal. In der Dämmerung sagen wir schließlich Au revoir und Monsieur Gilbert fügt ganz ernsthaft hinzu: bis zum nächsten Mal. Ja, bis zum nächsten Mal! Und wenn wir es nicht sind, dann ihr! Bitte, wer je in die Gegend von Les Eyzies im Périgord kommt, suche und finde die wunderbare Grotte de Bernifal. Solange Monsieur Gilbert noch da ist, um keine Postkarten zu verkaufen, keinen Strom zu legen und kein Panzerglas zu installieren. Ein wahrer Hüter der Höhle.

Sie gehörte seinem Vater und vor ihm seinem Großvater. Einen Nachfolger hat er nicht.

Grotte de Bernifal, Dordogne, FranceGrotte de Bernifal, Dordogne, France

Grotte de Bernifal, Dordogne, France

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2 thoughts on “In der Höhle des Monsieur Gilbert

  1. Happy Birthday Monsieur Gilbert!
    Der Superhöhlenbesitzer mit seinen 79, jetzt wohl 80 Jahren, ist wohl ein Mordskerl mit klaren Prinzipien zur Konservierung von frühzeitlichen Begebenheiten.
    Den möchte ich kennen lernen und mit ihm und Damien durch die Höhle streifen. So wie wir es in Lombrive gemacht haben. Bestimmt finde ich in Zukunft noch einige Mitbegeisterte. Monsieur Gilbert wird sich pflegen müssen, damit noch viele “Höhlenforscher” sein Kleinod besuchen können.
    Gern würde ich mehr Fotos vom Schauplatz sehen…. doch?
    Ich suche sie dann später in Damiens Blog oder in seinem Reiseführer für französische Höhlen. Ich muss eben etwas Geduld mitbringen.

  2. Ah, was für eine schöne Geschichte. Und tolle Fotos. Monsieur Gilbert scheint ja einen ganz besonderen Humor zu haben. Wann ist die nächste Tour?

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